Autor Amandus Samsøe Sattler
Orangefarbene Trapezblechverkleidung, irritierende Proportionen, stilistischer Bruch zwischen Bausubstanz und Dachaufbau: Das K118 in Winterthur ist in mehrerlei Hinsicht ein Statement und ein markantes Beispiel dafür, wie zirkuläre Architektur unsere Sehgewohnheiten infrage stellt.
Natürliche Baustoffe wie Holz, Stroh und Lehm
Die orangefarbene Trapezblechverkleidung kam von einem Abrissgewerbegebäude in der Nachbarschaft. Die Stahlträger für die konstruktive Struktur der Aufstockung wurden einem Gebäude entnommen, das einst als Coop-Verteilzentrale genutzt wurde. Da die Träger etwas zu lang sind, kragt bei der Wiederverwendung die Aufstockung auf einer ehemaligen Fabrik aus Backstein nun auf einer Seite über die Kanten des Gebäudes. Die Erschließung der drei neuen Geschosse erfolgt über eine Stahlaußentreppe. Sie stammt, genauso wie die verbauten Aluminiumfenster, von einem nicht mehr verwendeten Bürogebäude. Für den Innenausbau setzten die Planer bewusst natürliche Baustoffe wie Holz, Stroh und Lehm ein. Sie werden, wie auch die wiederverwendeten Baustoffe, mit minimalem Energieaufwand verarbeitet und garantieren ein exzellentes Raumklima.
Form follows availability
Das Basler Baubüro In Situ spart mit dieser Bauweise 60 % CO2 gegenüber einem vergleichbaren konventionellen Neubau ein. Damit erreicht es einen Wert von 4 kg/m2 Energiebezugsfläche EBF pro Jahr, der auch von Sanierungen im Bestand erreicht wird. Hinsichtlich CO2-Fußabdruck und Ressourcenschutz ist also dieser Neubau aus größtenteils wiederverwendeten Bauteilen genauso gut wie eine Bestandssanierung.
Spannend dabei ist, dass die Gestaltung und damit die Ästhetik durch den Zufall, durch die Verfügbarkeit von Materialien bestimmt ist. Das Prinzip heißt: Form follows availability – die Gestaltung folgt der Verfügbarkeit. Dieser Gedanke reduziert den Verbrauch von Ressourcen konsequent und ermöglicht eine wirkliche CO2-Reduktion. Die sichtbar andere Ästhetik, die unsere Sinneseindrücke anregt, kann eine Quelle für Erkenntnisse sein. Wir können verstehen, dass sich etwas geändert hat, wir können nachvollziehen, was im Raum, in der Stadt und in der Gesellschaft stattfindet. Der Bau schärft unsere Wahrnehmung für die Umwelt.
Umbau statt Neubau?
Noch immer hören wir ja aus der Politik und aus der Immobilienbranche, dass viel neu gebaut werden müsse, um den Bedarf, vor allem an Wohnungen, zu decken. Aber wie lässt sich diese Ansage vom Bauen, Bauen, Bauen mit dem Erreichen der Klimaziele vereinbaren? Man kann nicht CO2-frei bauen! Immer noch müssen täglich viele bestehende Gebäude, die gestern noch genutzt wurden, Ersatzneubauten weichen. Der Konflikt ist unübersehbar. Aber was heißt das konkret für uns Planer? Aufhören mit dem Bauen? Umbau statt Neubau? Materialeffizientes Bauen? Klimaschonende, klimapositive Baumaterialien? Wiederverwendung bestehender Bauteile?
Alle Antworten sind richtig und führen die Branche weiter: weniger neu bauen und einen wertschätzenderen Umgang mit Bestand und bestehende Materialien üben. Das Bauen trägt zu einer Gesellschaftsentwicklung bei, von einer expansiven zu einer reduktiven Moderne: mehr aus weniger zu machen. Es entsteht eine neue Stimmung für eine andere zirkuläre Produktivität und eine vielstimmige Ästhetik, eine Symbiose aus der Vielfalt unterschiedlichster Ausdrucksformen.
Wiederverwendung geeigneter Bauteile
Eine andere Produktivität zeigt ein anderes Gesicht. Aber wollen das die Planer und Bauherren? Viele fühlen sich eingeschränkt durch die Vorgaben des Bestehenden. Dabei ist es eine große Freude, auf Entdeckungstour zu gehen, das Gebäude zu erkunden und dabei viel zu lernen. Architekturstudierende der Hochschule Augsburg registrierten im letzten Semester zur Wiederverwendung geeignete Bauteile eines zum Abbruch vorgesehenen Gebäudes und boten sie auf der Plattform von Concular mit Erfolg zum Kauf an. Danach verwendeten die Studierenden die Materialien dieses Bauteilkatalogs auch für ihre eigenen Entwürfe. Diese Vorgehensweise ändert die Entwurfsmethode und führt zu ungesehenen Ergebnissen.
Ein anderes Beispiel ist einer der ersten Architekturwettbewerbe in Berlin mit wiederverwendeten Materialien. Ein großes Rückgebäude entsteht zum Teil aus den Materialien der Demontage des Vordergebäudes. Die Fassaden leben von ungewöhnlichen Fundstücken und sprechen eine neue, ungekannte Sprache. Das, hoffe ich, ist nur der Anfang für mehr Architekturwettbewerbe für Neubauten mit einem vorgegebenen Materialkatalog.
Improvisierte Schönheit
Der Bestand ist eine Perspektive. Wenn wir uns um vorhandene Gebäude bemühen, funktionale Offenheit zeigen und das Altern und Wiederverwenden von Material auch ästhetisch akzeptieren, können wir eine zirkuläre Produktivität entwickeln. Ein Gebäude ist nicht fertig beim Einzug. Hier beginnt ein Leben, voller Änderung und Anpassung. Eine unerwartete und improvisierte Schönheit kann entstehen. Der Ausdruck einer glücklichen Genügsamkeit.
Amandus Samsøe Sattler
Der Kolumn ist Gründungspartner des Architekturbüros Allmann Sattler Wappner, München. Präsident DGNB, Mitglied des Gestaltungsbeirats der Städte Wiesbaden und Oldenburg; Leitung internationaler Workshops, eigenes künstlerisches Werk in Fotografie.