Zugegeben. Die Moderne war schon recht erfindungsreich in Sachen Stuhl. Kein Material blieb außen vor, kaum eine Sitzposition unberücksichtigt. Das aber haben selbst Verner Panton und Luigi Colani nicht zu träumen gewagt: einen Stuhl, auf dem man mehr schwebt als sitzt. Darauf kommen musste erst einmal ein Neurowissenschaftler, der in seiner Jugend übrigens gerne Auto- mobildesigner geworden wäre.
Limbic Chair stellt Sitzen auf den Kopf
Mit dem Limbic Chair stellt Patrik Künzler unsere Vorstellung vom Sitzen auf den Kopf. Sein Drehstuhl hat mit Sitzen ungefähr so viel zu tun wie ein modernes E-Mobil mit einer Pferdekutsche. Er sieht nicht mal mehr nach Stuhl aus, sondern eher nach einer elaborierten Prothese, einem Exo-Skelett, das die Sitzenden an den Oberschenkeln unterstützt und sie so fast schweben lässt.
Dabei richtet sich die Wirbelsäule automatisch auf, die Füße schlenkern frei in der Luft und auch die Arme können sich völlig frei bewegen. Was leicht trivial klingt, ist jedoch ein kleines Meisterwerk, das unsere Vorstellung vom aktiven Sitzen revolutioniert.
Ermöglicht wurde die Innovation durch drei Jahre Forschung am MIT, dem renommierten Massachusetts Institute of Technology. Dort forschte der Schweizer Arzt über unsere Gefühle, oder vielmehr darüber, wie sich gewisse anregende Zustände hervor- rufen lassen. Künzler sagt, es gehe ihm um „Bewegungen, die glücklich machen.“ Solche Bewegungen können, so meint er, durch die Form der Sitzschale verstärkt werden.
Ein Stuhl, der uns irgendwie triggert und so ein Lachen ins Gesicht zaubert? Genau das scheinen die Besitzer des Stuhls zu erleben, wenn sie scheinbar abheben und völlig entspannt sitzschweben.
Positive Bewegungen fördern
Patrik Künzler, der soeben mit dem Swiss Design Prize ausgezeichnet wurde, nutzt und fördert „emotional positive Bewegungen“, unbewusste Mikrobewegungen der Wirbelsäule, die nicht nur ein Gefühl von Schwerelosigkeit hervorrufen, sondern eben auch ein entspanntes, aktives Sitzen ermöglichen.
Wer sich näher mit Künzlers Drehstuhl beschäftigt, sieht sich mit der Funktionsweise des limbischen Systems im Hirn konfrontiert, das für die „Verarbeitung von Emotionen“ (Wikipedia) zuständig ist und dem Stuhl seinen Namen gab. Hier werden die Bewegungen und Gefühle verschaltet, die den Menschen unbewusst und emotionsgesteuert handeln lassen.
Künzler macht sich die Erkenntnis zunutze, dass die periphere Sicht des Auges seit den Dinosauriern mit der Wirbelsäule gekoppelt ist, und zwar unabhängig vom bewussten Auge- Hand-System.
Peripheres Sehen ist für uns Menschen selbstverständlich. Etwa beim Spaziergang durch die Stadt. Niemand denkt dabei dauernd über den Untergrund oder das Gehen selbst nach. Wir gehen einfach.
Menschen am Arbeitsplatz entlasten
„Beide Systeme funktionieren parallel“, sagt Künzler, der Menschen am Arbeitsplatz entlasten will. Der Körper habe schließlich eine Intelligenz. Und diese setzt der Mediziner-Designer ein, indem er den Stuhl so programmiert, dass die Besitzer bei Bewegung der Oberschenkel wie durch einen Text scrollen. Oder in einer VR-Umgebung fliegen. Oder Salsa tanzen. Oder Ski fahren und Rückenfitness betreiben. An dieser Stelle bedauert der Autor, dass er den Stuhl nicht selbst testen konnte.
Der Limbic Chair werde so zum „Smartphone for your body“, sagt Künzler. Mit einfachen Mitteln lässt sich das Sitzsystem im Handumdrehen auf jede(n) Nutzer(in) anpassen und zwar mittels ausgetüftelter High-Tech-Karbonschalen, die in der Schweiz gefertigt werden. Nächstes Jahr soll ein weiteres Modell dazukommen, das wesentlich preiswerter ist, da weitgehend standardisiert. Eine Schale für alle. Das könnte dem Stuhl den nötigen Schub geben, um vollends durchzustarten.
Unser Kolumnist Ahmet Cakir weiß: Öfter mal bewegen tut Not