Die letzte Bildungskatastrophe liegt nun bereits ein paar Jahre zurück. Da war eine neue längst überfällig. Beim vorigen Mal, in den 1960er-Jahren, wurde die Situation als Katastrophe diagnostiziert, weil das gesamte Bildungssystem – von der Struktur über den Inhalt der Schulbücher und die didaktischen Methoden bis zu den Gebäuden – der Wirklichkeit hinterherhinkte. Heute fällt die Diagnose genauso aus. Ist doch erstaunlich: Hat sich etwa die Gesellschaft schon wieder geändert?
Das versetzungsgefährdete Bildungssystem
Die Normen, Ideale und Ziele, Erwartungen und Verhalten sind heute zwar vielfach anders als vor einer Generation, aber das Bildungssystem hat damit nicht Schritt gehalten. Die treibende Kraft heißt nun Digitalisierung. Davon war damals noch keine Rede, da waren die Rechner noch so groß wie Turnhallen. Die Pandemie hat die Misere nicht erschaffen, sie hat sie zutage treten lassen: Setzen, fünf.
Moderne Methodik in Lehre und Lernen
Die grundlegenden Fragen sind unverändert: Auf welche Zukunft sollen die Schulkinder vorbereitet werden? Was müssen sie dafür wissen und können? Und welche Formen erscheinen uns dafür als geeignetes Mittel, wie gestalten wir also für unseren Nachwuchs die Räume, Stunden und Prüfungen? Hefte raus, Klassenarbeit – oder: iPad an, eine PowerPoint auf Teams sharen?
Allerdings könnten wir mittlerweile auch gelernt haben, dass die große Fortschrittsutopie der Moderne eine Rechnung war, die nicht aufgegangen ist. Denn die Wirklichkeit verändert sich so schnell, dass lineare Pläne für ihre Bewältigung veraltet sind, noch bevor der Overheadprojektor sie an die Wand geworfen hat.
Es gibt sie, die Vorbilder
Unsere digitale Wirklichkeit ist so VUCA: So unbeständig, ungewiss, komplex und vieldeutig. Worauf kommt es also an, damit der Nachwuchs angesichts von Unsicherheiten, Ungenauigkeiten und Unwägbarkeiten im globalen Wettbewerb bestehen und zugleich die Klimakatastrophe abwenden kann? Der freitägliche Schulstreik macht auch auf diese Bruchstelle im Bildungssystem aufmerksam.
Dabei mangelt es nicht an Anregungen, wie sich ein grundsätzlicher Wandel realisieren lässt: Vorbildliche pädagogische Konzepte und Schulbauten sind so bekannt, dass sie längst zum Gegenstand des Pädagogik-Unterrichts wurden. Allein, dass fortschrittliche Didaktik im Einzelfall erfolgreich mit Leben erfüllt und zeitgemäße Architektur gebaut wird, ist die Ausnahme und nicht die Regel – gewiss aber ein Beweis für die Richtigkeit des Peter-Prinzips: „In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen.“
Möglicherweise sind wir oft davon überfordert, uns diese unscharfe Zukunft vorzustellen. Aber dann steht sie plötzlich ganz konkret vor uns und überwältigt uns mit ihrer Gewalt dermaßen, dass wir uns mit unserer Naivität und Unbeholfenheit ertappt fühlen wie dumme Schuljungen.
Bildungssystem im Modus: Existenzsicherung
Aktuelle Befragungen lehren uns, was fehlt, um Schule gelingen zu lassen: WLAN. Von Stabilität, Bandbreite und Flächendeckung ganz zu schweigen. Dann technische und methodische Schulungen für das Kollegium. Zudem flexible Räume, die sich nicht nur situativ anpassen, sondern auch lüften (und vielleicht sogar trotzdem heizen) lassen. Wenn es eine Maslow’sche Bedürfnispyramide für das Bildungssystem gäbe, wären wir momentan auf der primären Ebene: Existenzsicherung.
Ansprüche an die technische und räumliche Ausrüstung von Lernenden (Homeschooling) und Lehrenden (Homeoffice) erscheinen in weiter Ferne auf der höchsten Ebene der Selbstverwirklichung. Dabei ist es ganz einfach. Unsere neue digitale Wirklichkeit ist wie Pippi Langstrumpf: sprunghaft, unberechenbar, einfallsreich und unbezwingbar. Und nein, wir sind nicht ihre Freunde Tommy oder Annika. Wir sind deren spießige, engstirnige und verkrampfte Eltern, die die neue Wirklichkeit ablehnen, ihre Wirkmächtigkeit nicht anerkennen und sich stur an alten Gewohnheiten festklammern.
Warum Pippi Langstrumpf Schule machen sollte
Die Geschichten von Pippi Langstrumpf lassen sich als klassische Entwicklungsromane lesen. Bitte nicht davon irritieren lassen, dass die Hauptakteurin sich vermeintlich nicht entwickelt. Sie sorgt als Katalysator dafür, dass sich ihre Umwelt bewegt. Dabei erzeugt sie bei denen, die sie akzeptieren, Vergnügen, Unterhaltung und Lebensfreude. Nur: Pippi Langstrumpf segelt heute nicht mehr ins Taka-Tuka-Land, sie hat einen Account auf Tik Tok.
Wenn wir etwas von den kalifornischen Akteuren der Digitalisierung gelernt haben, dann doch die Erkenntnis, dass Pippi Langstrumpfs Lebensmotto keine Utopie ist: Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt.
Kolumnist
Prof. Dr. René Spitz lehrt an der RFH Köln Designwissenschaft. Seit 20 Jahren berichtet er als Designkritiker des WDR. Sein Interesse gilt der gesellschaftlichen Verantwortung der Gestalter. Einen augenzwinkernden Praxisbericht über Designlehre aus der Ferne finden Sie hier.