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Utopische Polis von Olivetti

Ivrea – Unesco-Welterbe 2018
Utopische Polis von Olivetti

Adriano Olivetti hatte die Vision einer Comunità: Produkt, Architektur, Städtebau und soziale Werte sollten zusammenfinden. Der ehemalige Firmensitz im norditalienischen Ivrea ist legendäres Zeugnis einer vorbildlichen Industriekultur.

Autorin Cecilia Fabiani

Adriano Olivetti ist wohl ein besonderer Mensch gewesen: extrem talentiert und charis- matisch. Als er mit 23 Jahren als Arbeiter in den väterlichen Betrieb in Ivrea eintritt, wird ihm schnell klar: Profit kann nicht das einzige Ziel eines Unternehmens sein. Das war 1924.

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Adriano Olivetti (1901-1960) vor dem Firmengelände der ICO. Die Aufnahme entstand 1958. Foto: © Fondazione Adriano Olivetti, Archivio Fotografico

Wie sein Vater Camillo, so ist auch Adriano ein kultivierter und weit gereister Ingenieur. Von ihm, der 1908 mit 20 Arbeitern unter dem Acronym ICO (Ing. Camillo Olivetti) gestartet war und seinen Betrieb innerhalb von wenigen Jahren zum Erfolg geführt hatte, übernimmt der Sohn den Respekt vor sozialen Werten. Gesundheit, Bildung und gute Arbeitsbedingungen liegen ihm für seine Mitarbeiter am Herzen. Entlassungen waren untersagt.

In den rund 30 Jahren, in denen Adriano das Unternehmen seit 1932 selbst leitet, führt er Olivetti und damit auch die Stadt Ivrea von Höhepunkt zu Höhepunkt. Standort und Unternehmen sind nicht nur sozial symbiotisch miteinander verbunden, sondern stehen weit über die Landesgrenzen hinaus für eine beispielhafte Industriekultur, die seit Juli 2018 auch als Unesco-Weltkulturerbe anerkannt ist: ‚Ivrea Industrial City of the 20th Century‘.

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Das Olivetti-Gelände erstreckt sich rechts und links von Ivreas Hauptachse, der Via Jervis.
Luftaufnahme: Igor Nicola © Fondazione Guelpa “Ivrea industrial city of the 20th century” UNESCO World Heritage List

Als Firmenchef definierte Adriano Olivetti erstmals die Gestaltung als tragendes Mittel des Unternehmens und entfachte ein Innovations-Feuerwerk nach dem anderen: 1932 brachte er Olivettis erste Reiseschreibmaschine (‚MP1-Ico‘) auf den Markt; es folgten weitere Meilensteine wie der erste in Italien produzierte elektronische Computer mit Transistoren (‚Elea 9003‘), der 1959 mit dem Compasso d’Oro für das Design von Ettore Sottsass ausgezeichnet wurde.

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Adriano gewinnt 1954 den Compasso d‘Oro für die ‚Letter 22‘, Design Marcello Nizzoli. Foto: © Fondazione Adriano Olivetti, Archivio Fotografico

Adriano Olivetti schreibt Geschichte

Das Unternehmen brachte Technik, Ästhetik und Farbe ins Büro, mit Schreibmaschinen wie der ‚Lexikon 80‘ (1948) oder der ‚Lettera 22‘ (1950). Industriedesigner wie Marcello Nizzoli, Ettore Sottsass und später Mario Bellini und Hans von Klier prägten die Produktsprache und Firmengrafik und setzten internationale Standards.

Es war die Verbindung von Design und innovativer Ingenieurskunst, die den wirtschaftlichen Erfolg von Olivetti begründete. Der elektrische Rechner ‚Divisumma 24‘, (1956) zum Beispiel erlöste das 10-fache seiner Produktionskosten (40000 Lit.).

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‚Divisumma 28‘, 1973 , ist der elektronische Rechner, der auch schreibt. Design Mario Bellini und Team: Derk Jan De Vries, Antonio Macchi Cassia, Giovanni Pasini und Sandro Pasqui. Foto: © Fondazione Natale Capellaro – Laboratorio-Museo Tecnologicamente/ Blow up

Der Konzern richtete sowohl in Italien als auch in den USA Forschungsabteilungen für Elektronik ein. In Ivrea erichteten heimische Architekten wie Figini e Pollini, Gardella, Fiocchi, Cosenza, Nizzoli und Gabetti e Isola Industriebauten und Wohnsiedlungen, die international zur Avantgarde zählen. Die Niederlassungen im Ausland wurden von renommierten internationalen Architekten gebaut: Egon Eiermann, James Stirling, Louis Kahn, Kenzo Tange.

Auch die sozialen Rahmenbedingungen galten als vorbildlich: Dazu zählten Mutterfürsorgeprogramme, eine verkürzte Arbeitswoche, überdurchschnittliche Gehälter oder Sozialleistungen wie die Förderung von Wohneigentum für Arbeiter.

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Wohlbefinden, Weiterbildung, soziale Dienstleistungen, Schutz der Mutterschaft waren Adriano Olivetti wie auch seinem Vater Camillo besonders wichtig. Das Bild zeigt ein Detail des Baus von Luigi Figini und Gino Pollini das zwischen 1939 und 1941 als Kindergarten gebaut wurde. Dialog mit der Natur und Anlagen im Außenraum sind Teil des Entwurfs.
Foto: © Francesco Mattuzzi/Fondazione Adriano Olivetti

Ivrea: Ein Ort des sozialen Zusammenlebens

Alles, was Adriano Olivetti plant – bis hin zur Flächennutzung des Aostatals 1937 und der Stadt Ivrea 1950 – folgt einer persönlichen Vision: Der weitsichtige Unternehmer träumt von einer neuen Art des sozialen Zusammenlebens, wird Bürgermeister von Ivrea, Abgeordneter des Parlaments in Rom.

In all seinen Aktivitäten – der von ihm gegründeten Partei, seinen Verlagen und Büchern – taucht das Wort Comunità (Gemeinschaft) auf. Selbst die interessanten Intellektuellen der Zeit arbeiten für ihn: Schriftsteller wie Franco Fortini, Giorgio Soavi, Ottiero Ottieri, der Gartenarchitekt Pietro Porcinai, der Vater der italienischen Psychoanalyse Cesare Musatti.

Im Kulturzentrum von Ivrea finden seinerzeit Ausstellungen, Vorträge und Events statt mit Künstlern wie Pasolini oder De Filippo. Und die Fotografen, Grafiker, Designer und Architekten, die für Olivetti arbeiten, sind sowieso die besten.

Wie weiter?

Am 27. Februar 1960, im Zug auf dem Weg in die Schweiz, stirbt Adriano Olivetti im Alter von 59 Jahren an einer Gehirnblutung. Für den Konzern arbeiten zu dieser Zeit 36 000 Menschen, davon mehr als 50 Prozent an Standorten außerhalb Italiens. Sein Tod kommt unerwartet und zu einem ungünstigen Zeitpunkt.

Der kurz zuvor getätigte Ankauf des US-amerikanischen Schreibmaschinenherstellers Underwood hatte die Mutterfirma geschwächt, die neue Unternehmensführung gerät in schwieriges Fahrwasser. Die Banken verlangen Kredite vorzeitig zurück, der Aktienkurs fällt und das neue Management trifft Fehlentscheidungen.

Als folgenschwerste soll sich die 1964 erfolgte Ausgliederung der damals zukunftsweisenden Elektroniksparte an General Electric erweisen. Wie kann das sein? In Zeiten des Kalten Kriegs will man neue Technologien, die auch militärisch eingesetzt werden können, nicht in den Händen einer italienischen Firma lassen?

Trotzdem – und man kann sagen glücklicherweise – arbeitet bei Olivetti eine kleine Gruppe von Ingenieuren weiter an Elektronikprojekten. Roberto Olivetti, Sohn von Adriano, glaubt fest an diese Zukunftstechnologie.

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‚P 101‘, der erste Personal Computer der Welt, entwickelt 1965 von Giorgio Perotto und Team ( De Sandre, Garziera, Toppi, Gaiti) . Das Design stammt von Mario Bellini. Foto: © Fondazione Natale Capellaro – Laboratorio-Museo Tecnologicamente/ Blow up

NASA erwarb gleich mehrere Exemplare

So kommt es 1965 zum ‚P101‘, dem ersten frei programmierbaren Tischrechner, sprich Personal Computer der Welt. Sein Design stammt von Mario Bellini, der mit Ettore Sottsass bis in die 1980er-Jahre noch viele weitere Ikonen für Olivetti entwerfen wird. Als der ‚P101‘ 1965 auf der BEMA in New York vorgestellt wurde, war er aus dem Stand heraus ein Messehit: 44 000 Stück wurden in Folge verkauft, obwohl ein ‚P101‘ mit 3200 US-Dollar so viel kostete wie vier Fiat 500 zusammen. Die NASA erwarb gleich mehrere Exemplare für den ersten bemannten Mondflug.

Doch nach einem ersten wirtschaftlichen Höhenflug in den 1980er-Jahren als zweitgrößter PC-Hersteller Europas hinter IBM beziehungsweise der Welt (die Aussagen darüber gehen auseinander), war der finale Niedergang des Unternehmens wohl unabwendbar.

Das, was von Olivetti als Marke übrig geblieben ist, gehört heute der Telecom Italia, inklusive dem Archiv. Von der Tochterfirma Olivetti Synthesis, die Büromöbel unter anderem nach Entwürfen von BBPR, von Klier und Sottsass hergestellt hatte, blieb überhaupt nichts erhalten.

Zu Besuch in Ivrea

Das geistige Erbe Adriano Olivettis wird heute von der gleichnamigen Fondazione in Rom bewahrt, wozu auch die Liegenschaften in Ivrea zählen, die sich in verschiedenen Händen befinden.

Nur zwei Stunden Zug benötigt man von Mailand zur visionären Kleinstadt im Piemont. 24 000 Einwohner, Hügel und Berge ringsum. Die Zeit, in der die Stadt ein Synonym für die Avantgarde von Produkt, Design, Industrie, Städtebau, Architektur und für hohe Sozialstandards war, liegt zwar schon eine Weile zurück. Ihre besondere Geschichte ist jedoch noch sichtbar.

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Ivrea, Guida alla Città di Adriano Olivetti

Am Bahnhof holt mich Marco Peroni ab, Autor eines Theaterstücks über Olivetti und des ‚Ivrea, Guida alla Città di Adriano Olivetti‘. Interessanterweise ist der Stadtführer im Verlag Edizioni di Comunità erschienen. Diesen Verlag hat Beniamino de’ Liguori, Generalsekretär der Stiftung, Historiker und Enkel des großen Unternehmers nach dem Vorbild seines Großvaters wieder ins Leben gerufen.

Man braucht nur wenige Meter, um vor dem Gebäude zu stehen, mit dem alles anfing: der ICO-Montagehalle aus rotem Ziegelstein, die Camillo Olivetti 1908 selbst entworfen hatte. Daran schließen sich die errichteten Erweiterungen und Glasgebäude der jungen Mailänder Rationalisten Luigi Figini und Gino Pollini an. Ihre Industriebauten zählten schon damals zu den herausragenden in Europa.

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Der Ziegelbau wurde vom Firmengründer Ing. Camillo Olivetti selbst entworfen, die Anbauten mit ihren avantgardistischen Glasfensterbändern stammen von den Architekten Figini e Pollini. Foto: © Francesco Mattuzzi/Fondazione Adriano Olivetti

Von hier startet mein Olivetti-Spaziergang: 70 000 ha Grund und 145 000 m² überbaute Fläche, davon 17 Prozent Wohnungen, alles innerhalb der Stadt.

Der in die Welterbe-Liste aufgenommene Teil von Ivrea umfasst einen aus 27 Gebäuden bestehenden Komplex. Neben der Fabrik, den Verwaltungs- und Wohngebäuden gehören soziale Einrichtungen dazu wie ein Kindergarten, ein Kulturzentrum mit Bibliothek, die Kantine, ein Sport- und Gesundheitszentrum, der Sozialdienst.

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Centro Residenziale Ovest, die Wohnsiedlung West, auch Talponia (von talpa=Maulwurf) genannt, weil sie den Abhang nutzt. Entworfen und gebaut von Roberto Gabetti und Aimaro Isola, 1968–1971. Foto: © Francesco Mattuzzi/Fondazione Adriano Olivetti

Parcours in den Südosten

Obwohl die meisten Gebäude heute in Privatbesitz sind und man viele nicht besichtigen kann, stört uns das nicht weiter. Im ‚Nuova ICO‘ sitzt die Uni Turin, Schulungszentren sollen folgen, ebenso kleine Start-ups. Es gibt mannigfaltige Ideen für künftige Nutzungen, denn viele Bauwerke stehen leer. Wir wandern weiter bis zur heute noch sehr modern anmutenden Wohnsiedlung ‚Ovest‘ von Roberto Gabetti und Aimaro Isola.

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Centro Residenziale Ovest, die Wohnsiedlung West, auch Talponia (von talpa=Maulwurf) genannt, weil sie den Abhang nutzt. Entworfen und gebaut von Roberto Gabetti und Aimaro Isola, 1968–1971.
Foto: © Francesco Mattuzzi/Fondazione Adriano Olivetti

Sie trägt den Spitznamen ‚Talponia‘ (talpa= Maulwurf), weil sie den Abhang nutzt. Sie befindet sich direkt hinter der altertümlichen ‚Villa Casana‘ , einst Repräsentanz der Firma Olivetti und heute das Archivio Storico Olivetti. „Zeichnungen, Fotos, Grafiken, Videos, Audios, Dokumente, insgesamt 11 laufende Regalkilometer an Materialien, die Forschern, Autoren und Studierenden zugänglich sind“, erklärt uns der dortige Leiter Enrico Bandiera. Von der Gartenterrasse überblickt man die Stadt und bekommt einen ganz guten Eindruck von der Größe des Olivetti-Imperiums.

Zur Altstadt läuft man von hier aus in weniger als einer Viertelstunde. In einem tristen Schulgebäude befindet sich der provisorische Sitz des ‚Museo Tecnologicamente‘ und der ‚Fondazione Natale Capellaro‘, benannt nach dem genialen Arbeiter Capellaro, der es bei Olivetti bis zum Entwerfer und Betriebsleiter brachte.

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‚M 1‘, das Original. Foto: © Fondazione Natale Capellaro – Laboratorio-Museo Tecnologicamente/ Blow up

Die Stiftung dient der wissenschaftlichen Förderung, während das Museum ein breites Spektrum zeigt von Original-Olivettis, von der ersten Schreibmaschine ‚M1‘ bis zu den vielen Designikonen.

Der Museumsbesuch lohnt sich auch deshalb, weil sich interessierte Besucher dort nach Voranmeldung mit Gastone Garziera verabreden können. Der Programmiercrack gehört zum Entwicklungsteam, das 1964 unter der Leitung von Giorgio Perotto den legendären ‚P101‘ entworfen hat. Garziera weiß als einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen nicht nur spannende Geschichten zu erzählen, sondern bietet am Museum auch zweistündige Computerkurse an, die nicht nur für italienische Schulklassen erhellend sind.

Drei Jahre haben die Stadt Ivrea und die Fondazione Adriano Olivetti nun Zeit, um das Unesco-Welterbe-Gelände für die Besucher besser zugänglich zu machen. Das wirtschaftlich und soziokulturell visionäre Projekt von Adriano Olivetti ist die Gestalt gewordene Utopie einer Polis und damit schon heute Inspiration pur.

Eine Reise nach Ivrea lohnt sich. Und eine gute Vorbereitung auch. md-Autorin Cecilia Fabiani empfiehlt folgende Webseiten:
www.fondazioneadrianolivetti.it
www.ivreacittaindustriale.it
www.museotecnologicamente.it
www.archiviostoricolivetti.it
www.storiaolivetti.it

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