Ausstellung ab 20. März in der Serpentine Gallery in London. Wegen Corona geschlossen. Update über Serpentine Gallery
Formafantasma ist für Materialexperimente bekannt. Erstmals erregte das Studio 2009 Aufmerksamkeit: Im Rahmen der Abschlussarbeit ‚Baked‘ an der Design Academy Eindhoven entwickelten Andrea Trimarchi und Simone Farresin ein lehmartiges Material aus Nahrungsmitteln wie Getreide oder Spinat und formten archetypische Gefäße.
In den Folgejahren löste Formafantasma mit Arbeiten aus Kohle (‚Charcoal‘, Vitra Design Museum, 2012) Bronze und geschliffenem Glas (‚Still‘ und ‚Alphabet‘, J.& L. Lobmeyr, 2014) Materialhypes aus. Zuletzt krönten seriöse Industrieentwürfe wie für Flos (‚WireRing‘ und ‚Blush lamp‘, 2017) das Portfolio des Studios.

Foto: Ikon
Und jetzt also Büromöbel? Weit gefehlt. ‚Ore Streams‘ manifestiert sich zwar in zeitgeistig anmutenden Tischen, Stühlen und Trennwänden, doch diese sind nur die Spitze des Eisbergs, „narrative Objekte“, wie Farresin sie nennt.
Erst im Zusammenspiel mit der Projektwebsite www.orestreams.com offenbart sich das Gesamtbild. Denn die Entwürfe basieren nicht auf ergonomischen Anforderungen, Haltbarkeitsstudien und Feuerresistenzen. Sie wurzeln in einer dreijährigen Materialstudie im Auftrag der Australischen National Gallery of Victoria (NGV) und einer Kooperation mit der Triennale Milano.

Recherchefreiheit
2017 sprachen NGV-Kuratoren Formafantasma an: Im Vorfeld der ersten Art and Design Triennale kooperierte das Museum mit verschiedenen Designstudios. „Sie beauftragten uns, Materialien auf verschiedenen Ebenen zu erforschen”, erklärt Farresin. „Die einzige Beschränkung war, dass das Entwurfsergebnis ein Möbel sein musste, da das Museum ausschließlich Möbel für seine Sammlung kaufen kann.“ Für Formafantasma trat das Forschungsfeld rasch hervor. „Australien ist eines der wenigen Erste-Welt-Länder, in dem Mineral- und Metallförderung noch immer Teil der Hauptwirtschaft ist. Das war also ein interessanter Ausgangspunkt.“
„Wir erkannten, dass Elektroschrott der am schnellsten wachsende Müllstrom der Welt ist.“
Das Studio startete eine breite Recherche: Geschichte, Politik, Handel, selbst aktuelle Auswirkungen von vergangenem Kolonialismus deckte Formafantasma auf. Und nach acht rechercheintensiven Monaten der Schlüsselmoment: „Wir erkannten, dass Elektroschrott der am schnellsten wachsende Müllstrom der Welt ist – und dass 2080 mehr Metallressourcen oberirdisch zu finden sein werden, als noch unter Tage lagern.“

Gegen den Fetisch des Grauens
Damit hatte Formafantasma ein kerniges und bissiges Thema gefunden, auf vielen Ebenen. „Wenn man über Materialrecycling spricht, geschieht das unvermeidlich mit positiver Konnotation, doch wenn man sich mit Elektroschrott befasst, ist die Situation weit komplexer.“ Fortschreitende Technologien und schrumpfende Ressourcen befeuern die Recyclingindustrie; in einer Tonne alter Computer ist so viel Gold zu schöpfen, wie in 17 Tonnen Erz.
„In einer Tonne alter Computer ist so viel Gold zu schöpfen, wie in 17 Tonnen Erz.“
Doch die Kehrseite der Medaille ist der Status quo, die Bilder, die sich ins breite Gedächtnis eingebrannt haben: Wie Menschen in der dritten Welt mit kruden Werkzeugen versuchen, Elektroschrott zu trennen. Für das gewonnene Metall zahlen sie mit Gesundheit und ihrer Umwelt. Davon will Formafantasma bewusst abkehren. „Ich denke, viele der Bilder, die das Problem darstellen wollen, fetischisieren unbewusst das Grauen. Am Anfang war der Schockeffekt gut, doch nach einer Zeit muss man den Stil neu erfinden – sonst wird der Horror zur Gewohnheit”, erklärt Farresin.

Erzählende Möbel
Das ist sicherlich ein Grund für den Stil der Büromöbel: Sie bestehen aus Elektroschrott, doch sind geradlinig und zeitgeistig, unbefangen in ihrer Klarheit und nicht selten von transzendierendem Autolack-Schimmer. Formafantasma wählte das Büro als Anwendungsszenario, da dies der Ort ist, an dem Elektrogeräte unabdingbar sind. Computer, Handy, Drucker, selbst Küchenzubehör wie Wasserkocher und Mikrowelle sind essenziell im regulären Arbeitstag. Formafantasma macht Mikrowellen zum Tisch, Computergehäuse zum Regal, Handybauteile zum Stuhlornament. Aber das bleibt, wie gesagt, nur die Spitze des Eisbergs.
„Manche Dinge müssen aus anderen Gründen existieren, als um Besitztum zu sein.“
Der Großteil des Projektes liegt, für jeden gut sichtbar, im Netz. Denn „wir können öffentliche Gelder sehr viel sinnvoller nutzen, als zum Möbelbau“, wie Farresin mit einem Augenzwinkern zugibt. So stellt sich auch nicht die Frage, ob es nicht nachhaltiger gewesen wäre, die Möbel in Serie zu denken, oder direkt ihre Komponenten dem Kreislauf wieder zuzuführen. „Manche Dinge müssen aus anderen Gründen existieren, als um Besitztum zu sein. Unsere Strategien und Methoden, die sollten in Serie gehen!”

Formafantasma hat unter www.orestreams.com die Rechercheergebnisse sorgfältig dokumentiert und aufbereitet, angefangen mit einer Video-Bestandsaufnahme der Thematik über Interviews mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Kriminalitätsbekämpfung und NGOs bis hin zu konkreten Vorschlägen, mit welchen simplen Schritten man das Recyceln und Reparieren von Elektrogeräten maßgeblich vereinfachen könne.
„Wir werden politischer.“
„Die Ideen, die im Entwurf implizit sind, werden in der Visualisierung explizit“, sagt Farresin. Und hofft, dass ihre Bilder etwas ändern werden, dass sie Akteure vernetzen, Horizonte öffnen, zur Handlung motivieren. Zumindest bei Formafantasma war das der Fall. „Unsere Arbeiten vor und nach Ore Streams werden sich unterscheiden. Wir werden, wann immer wir es können, politischer.“ Das nächste Projekt? Eine Reflexion der Holzindustrie, zu sehen in der Serpentine Gallery in London ab März 2020.
Vielleicht können Designer nicht die Welt ändern – „aber ich denke, es ist einen Versuch wert.“
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