Erst vor wenigen Tagen wurde die Deutsche Einheit gefeiert. Leise und wegen der Pandemie nicht in dem Umfang, wie ursprünglich geplant. Passend dazu kommt der Fotoband ‚Graubunt‘ daher: ‚Zwischen Anarchie und D-Mark – Ostdeutschland in den frühen 90ern‘. Aufschlussreich für alle, die den Osten besser verstehen wollen, anekdotenreich für die, die ihn so noch erlebten.
„Grau war der Osten, grau, so grau. Bunt war der Westen, bunt, schön bunt. Und das Bunte
roch nach Bohnenkaffee, Sarotti-Schokolade und feinem Parfum. Und das Graue roch nach
feuchten Uniformjacken, nach Filzstiefeln und zusammengeklebten Kantinenkartoffeln. Alles
schmeckte angenehm und aufregend im bunten Sonntagsstaat. (…)“
Auszug aus „Farbsysteme“, Bärbel Klässner
Constanze Eiselt, eine von insgesamt 36 Autoren und Autorinnen, die in über das Nichtmehr und das Nochnicht der Nachwendezeit schreiben, erinnert sich:
„Die Schlacht der ersten und letzten freien Wahl in der DDR war geschlagen, Kohl hatte haushoch gewonnen, die Wiedervereinigung war beschlossene Sache. Ganz Dresden freute sich. Ganz Dresden? Nein! Da gab es mit der Äußeren Neustadt ein gallisches Dorf, dessen Bewohner*innen schon zu DDR-Zeiten eigene Ideen von Gesellschaft und Selbstbestimmung entwickelt und gelebt, Häuser „instandbesetzt“ und politischen Widerstand geleistet hatten.
Und die auch jetzt nicht kampflos in den kollektiven Jubel einstimmen wollten. Schon längst waren die ersten dunklen Wolken am Horizont der blühenden Landschaften aufgezogen: Arbeitslosigkeit, die Kahlschlagpolitik der Treuhand, fremdenfeindliche Übergriffe, Mietwucher. Gegen all dies, und vor allem gegen letzteres wollten die Neustädter ein Zeichen setzen.
Und so wurde an zwei Tagen im Juni 1990 die Bunte Republik Neustadt ausgerufen: durch weiße Striche auf den Straßen in ihrem Hoheitsgebiet gekennzeichnet, ausgestattet mit einer eigenen Regierung (hier wählte man interessanterweise nicht die Form der Kommune, sondern vielmehr die der Monarchie), mit Ministerien wie dem der Wehrkraftzerfetzung und der Pfuinanzen.
Die Flagge zierte Micky Maus im Ährenkranz, es gab mit der Neustadtmark eine eigene Währung, die im Gegensatz zur Realpolitik die DDR-Mark gleichbehandelte, während die D-Mark mit 1:2 abgewertet wurde.“
Bilder des Um- und Aufbruchs
Es sind persönliche Erinnerungen wie diese, die den Fotoband so spannend machen. Neben den eindrücklichen Bildern von Jürgen Hohmuth kommen Bürger der ehemaligen DDR zu Wort, die in sehr persönlichen Worten die Situation um 1990 beschreiben.
Die Themen sind vielfältig: Ob nun die Kaufhalle, die Raucherecke, der Tag des Mauerfalls, die zerfallenden Häuser in den Altstädten oder die Situation rund um die einzige freie Wahl in der DDR vor der Einigung – es zieht den Leser in eine Welt, die für einige Monate bzw. Jahre vermeintlich alles möglich machte und die Lutz Seiler so beschreibt:
Die Dinge geschahen. Man hatte keinen Einfluss darauf.
Das sogenannte eigene Leben,
es war eine ganz und gar unwahrscheinliche,
eigentlich unheimliche Geschichte.
Persönliche Rückschau
Eine sehr persönliche poetische Rückschau auf eine Zeit, in der alles möglich schien. Mit Texten von Gisbert Amm, Gunnar Baganz, Thomas Brasch, Caroline Buchartowski, Jeff Beer, Sabine Conquest, Christoph Dieckmann, Oliver Domzalski, Dietmar Ebert, Constanze Eiselt, Marcus Fehse, Christoph Hein, Gerhard Helmut, Kara Huber, Lars-Broder Keil, Rainer Kirchmann, Bärbel Klässner, Jan von Kurnatowski, Christoph Links, Bernhard Maaz, Markus Meckel, Steffen Mensching, Andreas Metz, Christian Meyer-Landrut, Peter Mühlfriedel, Jörg Müller,Sten Nadolny, Jochen Schmidt, Kathrin Schmidt, Ingo Schulze, Lutz Seiler, Michael Succow, Andreas Ulrich, Peter Wensierski, Hans-Eckardt Wenzel und Detlef Wunsch.
GrauBunt
Zwischen Anarchie und D-Mark – Ostdeutschland in den frühen 90ern
Herausgegeben und mit Fotografien von Jürgen Hohmuth
Fotoband mit 152 Seiten, etwa 80 Abbildungen
Hardcover, Format: 21 x 24 cm,
29,95 Euro
ISBN 978–3–86228–214–2, Berlin, 2020, Edition Braus
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Ausstellung zum Buch
Nahaufnahme Ostdeutschland, Fotografien von Jürgen Hohmuth 1990 – 1994
Bis 11. April 2021
Museum in der Kulturbrauerei, Knaackstraße 97, 10435 Berlin