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Urban Mining: Wie wir bisher bauen und wie wir in Zukunft bauen müssen

Wie wir bisher bauen und wie wir in Zukunft bauen müssen
Architekturästhetik

Architekturästhetik
Solche Gebäude aus dem Dornröschenschlaf zu küssen, ist notwendiger denn je. Foto: José-Luis-Photographer
Jede Epoche hat ihren eigenen Baustil. Statt Abriss plädiert Tina Kammer für die Sanierung von Gebäuden und Urban Mining. Damit verbunden sind eine neue Ästhetik und andere Sehgewohnheiten. Statt neuer Ressourcen müssen Werkstoffe in den Kreislauf gelangen.

Autorin Tina Kammer

Potsdam im Frühling 2022. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern und die Bäume stehen in voller Blüte. Mit dem Fahrrad entlang der Havel auf dem geschichtsträchtigen Berliner Mauerweg streift man mondäne Gründerzeitvillen, nüchterne Neubauten in blassen Nude-Tönen sowie schmucklose Häuser aus der Nachkriegszeit. Die Villen erstrahlen inzwischen in altem Glanz.

Kollektiver Individualismus

Schmucklose Gebäude aus den 1950er- und 1960er-Jahren stehen in der Nachbarschaft und führen dagegen ein Schattendasein. Sie repräsentieren eine ebenfalls vergangene Zeit, in der jedoch Prunk und Pomp verpönt waren. Es musste schnell gebaut werden im zerbombten Nachkriegsdeutschland. Und dann stehen da noch die gesichtslosen Neubauten. Sie gleichen sich in Fassadengestaltung, Kubatur und Anmutung so sehr, dass sie allgemeingültigen Einheitsgeschmack widerzuspiegeln scheinen. Man könnte meinen, sie seien in Zeiten des kollektiven Individualismus mit ein und derselben Schablone gezeichnet worden.

Man stelle sich vor, dieses Zusammenspiel an Architekturen gäbe es nicht und die Villen hätten Häusern aus der Mitte des letzten Jahrhunderts weichen müssen und diese dann wieder neueren Bauten. Das Ergebnis wäre ein Einheitsbrei. Was heute nicht angesagt ist, kann es morgen wieder sein. Wer hätte gedacht, dass die 1950er- und 1960er-Jahre-Bauten ein Revival erleben und als Retro-Chic gerade bei jungen Leuten Begehrlichkeiten wecken? Baukultur ist identitätsstiftend und allgegenwärtig. Sie prägt uns und unser Stadtbild, wo und wie wir leben. Die Stile aus unterschiedlichen Epochen zeigen, welches atmosphärische Potenzial im Weiterbauen steckt.

Abriss bedeutet unwiederbringlichen Verlust

Über 90 % unserer Gebäude sind Bestandsgebäude. Sie haben einen kulturellen Wert, der Wertschätzung verlangt. Abriss bedeutet unwiederbringlichen Verlust. Um unsere Klimaziele zu erreichen, muss der Bestand energetisch saniert und gegen die kommende Hitze gewappnet werden. Das bedeutet, dass Architekten sich des Bestehenden annehmen müssen, um es individuell weiterzubauen. Neubauten können mit Blick auf die grauen Energien, die ein Abriss freisetzt, nicht die Lösung sein.

Mit diesem Ansatz gewinnt Urban Mining, also das Sichern und Weiterbauen mit bereits verarbeiteten Rohstoffen, eine zunehmende Bedeutung. Das zirkuläre Bauen hat das Ziel, Rohstoffe im Kreislauf zu halten.

Urban Mining: Umgeben von wertvollen Materialien

Dabei sollten wir den Begriff „Recycling“ klar definieren. In den meisten Fällen bedeutet Recycling Downcycling. Zu Abfall gewordene Rohstoffe werden unter enormem Energieaufwand zu qualitativ minderwertigen Produkten verarbeitet. Die Alternative dazu stellen kreislauffähige Produkte dar. Diese landen am Ende ihres Lebenszyklus wieder im Produktionskreislauf. Ziel ist es, die Rohstoffe so lange und so häufig wie möglich für den gleichwertigen Einsatz zu nutzen, ohne neue Ressourcen zu verbrauchen.

Der Altbestand wird oft ohne Prüfung von Alternativen abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Dadurch entstehen gleich zwei Problematiken: Erstens vernichtet der Abriss wertvolle Rohstoffe. Zweitens kommen in nahezu allen Bauprojekten Primärrohstoffe zum Einsatz, d. h. Rohstoffe, die neu abgebaut wurden.

Sehgewohnheiten ändern sich

Einwände wie, alles andere wäre zu aufwendig oder es gäbe noch keine geeignete Datenbank und die Erfahrungen würden fehlen, können 2022 nicht mehr gelten. Sie sind schlichtweg falsch. Wir müssen den Blick über den Tellerrand wagen. Es gibt bereits erfolgreich umgesetzte Leuchtturmprojekte, professionelle Plattformen für Sekundärrohstoffe und Produkte sowie zahlreiche Studien, die zeigen, wohin die Reise geht.

Mit den wiederverwendeten, natürlichen Materialien und Innovationen aus nachwachsenden Rohstoffen ändern sich unsere Sehgewohnheiten. Statt Sichtbeton und high glossy sehen wir Unebenheiten, rauere Oberflächen und weiche Formen. Unsere Ansprüche müssen sich anpassen. Besonders die Generation Z hat andere Vorstellungen von ihren Lebensräumen als die Boomer-Generation, die noch im Höher-schneller-weiter-Modus aufgewachsen ist.

Der Traum von eigenen Haus im Grünen

Hinzu kommt der demografische Wandel. Der Traum vom Einfamilienhaus weicht flexiblen Nutzungen und adaptiven Grundrissen. Einteilungen à la Eltern, Kind 1, Kind 2 entsprechen im Zeitalter der Patchworkfamilie und anderer Lebensformen nicht mehr dem Bedarf. Neu ausgewiesene Neubaugebiete sind ein heißes Thema und politisch brisant. Derzeit haben wir in Deutschland immer noch täglich einen Landschaftsverbrauch von circa 60 ha. Das entspricht 84 Fußballfeldern. Bei der Diskussion dürfen wir nicht vergessen, welche ökologischen Auswirkungen diese Gebiete auf der grünen Wiese haben. Sie bedeuten Flächenversiegelung und einen weiteren Verlust an Biodiversität. Hohe Investitionen in Infrastrukturen wie Kanalisation und Straßen folgen. Dabei gibt es viel Leerstand, der darauf wartet, wach geküsst oder in die Neuzeit katapultiert zu werden.

Wir haben gelernt, neu zu bauen. Jetzt sollten wir auch lernen, weiter zu bauen.


Tina Kammer Kolumnistin

leitet gemeinsam mit Andrea Herold die Plattform interiorpark.com. Sie beraten und unterstützen Architekten und Hersteller bei Nachhaltigkeitsstrategien. Seit 2022 ist sie Professorin für Nachhaltiges Bauen an der IU Internationale Hochschule.

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