Auf der Chicagoer Architekturbiennale 2023 ist derzeit das Projekt ‚HygroShell‘ der Universität Stuttgart zu sehen: ein Pavillon aus einem neuartigen Holzbausystem, das die bislang unerwünschten hygroskopischen Eigenschaften von Holz nutzt, um aus sich selbst heraus eine gekrümmte Geometrie zu erzeugen.
Das Interesse an der Verwendung von Holz als nachhaltiges Baumaterial wächst. Der Baustoff mit einem größeren ökologischen Fußabdruck als Stahl und Beton soll diese nach Möglichkeit ersetzen. In der Vergangenheit galten die stark anisotropen hygroskopischen Eigenschaften von Holzmaterialien jedoch als großer Nachteil. Es kam zu unerwünschten Verformungen oder Rissen und führte zu langfristigen Leistungsproblemen. Bei der Ernte haben Holzstämme zu Beginn einen hohen ‚grünen‘ Feuchtigkeitsgehalt. Wenn sie trocknen und sich an die Feuchtigkeit der Umgebungsluft anpassen, beginnen sie langsam zu schrumpfen.
Dünnschaliges Bauen mit biobasierten Materialien
Diese hygromorphen Eigenschaften macht sich ‚HygroShell‘ zunutze. Das Holzbausystem basiert auf zweischichtigen, kreuzweise angeordneten Laminaten: einer dickeren aktiven Schicht mit hohem Feuchtigkeitsgehalt sowie einer dünneren restriktiven Schicht mit niedrigem Feuchtigkeitsgehalt. Wenn das Holz in der aktiven Schicht beim Trocknen schrumpft, krümmen sich die zweischichtigen Platten. Mithilfe analytisch abgeleiteter mechanischer Modelle lassen sich die natürlichen Eigenschaften des Materials somit gezielt nutzen. Eine präzise und energiearme, passive Methode zur Erzeugung gekrümmter Geometrien.
Leichte Schalenkonstruktion
Im Fall des Pavillons für die Chicagoer Architekturbiennale 2023 entwickelten die Forschenden der Universität Stuttgart eine leichte Schalenkonstruktion. Zunächst bestand sie aus flach verpackten, in situ gebogenen Komponenten. Jede Komponente enthielt architektonische, strukturelle und kinetische Eigenschaften, die in ihren flachen Zustand eingebettet waren. Vor Ort entwickelten sich die Komponenten dann zu einer gekrümmten, mit Schindeln verkleideten, ineinandergreifenden Geometrie.
Das Ergebnis ist ein zart gebogenes Vordach, das 10 Meter überspannt und nur 28 Millimeter dick ist. „Abweichend von typischen Strukturtypologien eröffnet die einfach gekrümmte Konstruktion des Daches neue Potenziale für ressourcenschonendes, dünnschaliges Bauen mit biobasierten Materialien“, so die Forschenden.
Interdisziplinärer Forschungsansatz
‚HygroShell‘ wurde als Forschungs-Pavillon im Rahmen des ITECH Masterprogramms und des Clusters of Excellence Integrative Computational Design and Construction for Architecture (IntCDC) an der Universität Stuttgart entwickelt. Damit unterstreicht das Projekt die Bedeutung und das Potenzial eines interdisziplinären und vielfältigen Forschungs- und Bildungsumfelds.
„Durch dieses rechnergestützte Verständnis natürlicher Materialien ist es möglich, eine tiefere architektonische Integration in Material und Form zu erreichen und eine ökologisch effektive und dennoch ausdrucksstarke Materialkultur in der Architektur zu erforschen“, so die Forschenden. „Im Vergleich zu anderen intelligenten, formverändernden Materialien ist Holz aufgrund seiner starken Anisotropie, seiner strukturellen Eigenschaften und seiner hohen Verfügbarkeit zudem ideal geeignet, um die Selbstformung kostengünstig und in einem für den Hochbau geeigneten Maßstab zu integrieren.“