Der renommierte Architekturfotograf Roland Halbe schlug einem ihm bekannten Ehepaar für den Umbau des großväterlichen Anwesens Arno Lederer vor. Dieser steht für expressive ausdrucksvolle Bauten. Architekt und Bauherren fanden sehr schnell zueinander.
Erste Ideen, die alte Villa mit einem Anbau zu ergänzen, lagen auf dem Tisch. Die Umwandlung des alten und mit vielen familiären Erinnerungen aufgeladenen Anwesens in ein modernes Wohnhaus stellte sich jedoch als schwierig heraus.
Mit fortschreitender Planung erkannte Lederer, dass die Bausubstanz nicht mehr geeignet war, gehobene Ansprüche tatsächlich zu befriedigen. Lederers Büro Lederer Ragnarsdóttir Oei Architekten (LRO) untersuchte daher parallel – und ohne Auftrag – die Möglichkeit eines Neubaus.
Neubau statt Sanierung
Es stellte sich schnell heraus, dass ein Neuanfang einfacher zu realisieren war und das gewünschte Raumprogramm besser umgesetzt werden konnte.
Die Bauherrenfamilie, an Kultur und Architektur interessiert, erkannte die Qualität der neuen Planung und begann, ergänzende Ideen zu formulieren, die den Entwurf letztlich auch in der Kubatur wachsen ließen.
Das sich aus einem ersten Entwurf herauskristallisierende „Haus E“, so die Bezeichnung des Neubaus, spiegelte aber auch die Auslandserfahrung der Familie wider. Viele Jahre in den USA beeinflussten die Bauherren in ihren architektonischen Ideen und in ihrem Kunst- und Kulturverständnis.
Die Annäherung an das Gebäude erfolgt von der südlichen Seite des Grundstücks über eine ansteigende Wiese, die im Norden an einem Waldsaum endet. Ein Gehweg über flache Treppenstufen führt auf kurzem Weg zur Zugangsseite.
Schönheit des Ziegels
Die Anfahrt hingegen erfolgt über eine kurvenreiche Zufahrt zur Schmalseite des Hauses. Dies hat einen wunderbaren Effekt, denn eine Garageneinfahrt ist letztlich doch immer eine unwillkommene Störung bei der Komposition einer Hauptfassade. Das dreigeschossige Haus liegt quer zum Hang und ruht auf einem Sockel, der die bereits erwähnte Garage sowie Technik- und Nebenräume aufnimmt.
Einladende Geste
Zum Wohngeschoss mit Eingang an der Südseite führt eine außen liegende einläufige Treppe, die von einem expressiv auskragenden Balkon gestalterisch übertrumpft wird. Lederer reduzierte mit dieser Geste gezielt den Eindruck einer Zuwegung, die den Besucher nötigt, zum Gastgeber „hinaufzusteigen“.
Der Balkon, direkt vor dem Wohnzimmer gelegen, wirkt wie eine einladende Geste, den Gast willkommen zu heißen. Es ist nur konsequent, dass man, vor dem Eingang stehend, diesen Balkon – einer der Lieblingsorte der Familie – direkt erreichen kann, ohne das Haus zu betreten.
Was den Betrachter auf den ersten Blick verblüfft und zugleich positiv einnimmt, ist die perfekte Ausführung des Ziegelmauerwerks und der vielen kleinen, wirkungsvollen Details.
Lederer erlaubt sich immer wieder Überraschungen, wie der Fassadenanteil im Osten, der über der Garage ausgeklappt ist. Das Treppenhaus steht im Winkel vom Kubus ab, ein kleineres Fenster im OG wird mit einem unterbauten Erker aus Ziegeln betont.
Arno Lederer mit Liebe zum Detail
Dem Bauherrenpaar gefiel die von LRO gebaute Diözesankurie in Rottenburg gut, insbesondere deren geschlämmte Fassade. Laut den Architekten waren mehrere Anläufe nötig, um mit der Schlämme die gewünschte Färbung und Struktur des Vorbildes zu erhalten, da die Ziegelmischung des Rottenburger Projekts nicht erhältlich war.
Die Grundrisse sind von klassischer Reduziertheit. Arno Lederer reiht in dem langen, schmalen Haus die Räume schlicht wie Perlen an einer Schnur aneinander.
Innen und Aussen
Das hat den schönen Effekt, dass man das „Haus E“ an seinen Längsseiten komplett durchwohnen kann. Nach Süden hin fällt der Hang ab und zur Nordseite bietet der vor Blicken geschützte, beheizte Pool Privatsphäre.
Das Wohngeschoss wird über raumhohe Glasschiebetüren von zwei Seiten belichtet. Zur Südseite hin öffnen sich diese auf den bereits erwähnten Balkon, nach Norden zum Freibereich mit Pool.
Eine kleine Laube dient als Gartenpavillon und hilft, das Haupthaus von Freizeitvergnügungen sowie dem Badebetrieb abzuschirmen. Hier haben auch zwei markante alte Säulen aus dem entfernten Gebäude ihre letzte Bestimmung als Stützen gefunden. Küche und Wohnbereich sind zusammengefasst, dahinter schließen die Bibliothek und ein Gästeappartement an.
Ergänzung der Architektur
In vielen Räumen zeigen die Bauherren Kunst, die sie in den USA und auf vielen Reisen erworben haben. Auf wohltuende Art und Weise positionieren sie ihre Bilder nicht als gestalterischen Mittelpunkt der Räume, sondern verstehen sie als Ergänzung der Architektur.
Im Obergeschoss befinden sich das Elternschlafzimmer sowie die Kinderzimmer, in denen – dem jugendlichen Alter des Nachwuchses geschuldet – rudimentäre und teilweise aus einfachen Paletten hergestellte Möbel mehr liegen als stehen.
Kontrastreich
Den Innenraum prägen Sichtbetondecken, die aus einer rauen Bretterschalung resultieren. Nicht überall hat das Betonieren mit derselben Qualität funktioniert, aber glücklicherweise sind die Fehlstellen im von Nebenräumen dominierten Untergeschoss zu finden.
Ein solches Haus zu bewohnen, den Kontrast einer hochwertigen Ausstattung neben dem rauen Sichtbeton zu akzeptieren, ist eine Kulturleistung. Hier wurde nicht einem „schöneren Wohnen“ gehuldigt – sondern ehrliche und sehr gute Architektur gemacht. Das beeindruckt.
Die Architekten
Marc Oei, Prof. Arno Lederer und Jórunn Ragnarsdóttir (v.l.n.r.)
gründeten das Büro 1979. Derzeit beschäften sie rund 50 Mitarbeiter. Regelmäßige Wettbewerbsteilnahmen gehören neben der Bearbeitung laufender Projekte zu den entscheidenden Aufgaben.
Fakten
Projekt: Haus E
Standort: Schwäbische Alb
Bauherr: privat
Architektur: Lederer Ragnarsdóttir Oei Architekten
Bauaufgabe: Wohnhaus
Fertigstellung: 2020
Grundstücksgröße: 7 160 m²
Geschosse: 3
Nutz-/Wohnfläche: 395 m²
Möblierung/Sanitär/Beleuchtung/Hauskommunikation:
Einbaumöbel: weißlackierte Möbel, Schubladeneinlagen aus Eiche, Küche aus Corian als individuelle Schreinereinbauten
Möblierung: Kamin ‚Gyrofocus‘, ‚Eames Lounge Chair‘ von Vitra
Beleuchtung: außen Bega Leuchten, Grundbeleuchtung innen durch individuell entwickelte, deckenintegrierte Leuchte, ‚Toldbod‘ von Louis-Poulsen
Sauna: Klafs
Sanitär: überwiegend Dornbracht
Hauskommunikation: integriertes Soundsystem mit Deckenlautsprechern und Klingel von Siedle