Von Bickenbach an der Bergstraße bis nach Darmstadt sind es knapp 14 Kilometer. Eine Strecke, für die man mit dem Auto eine Viertelstunde braucht, mit dem Fahrrad dreimal so lang. Für das 1984 gegründete Unternehmen Alnatura, das seinen Hauptsitz von Bickenbach nach Darmstadt verlegte, war es aber ein weiter Weg, der vom alten zum neuen Standort führte. Denn die neue „Arbeitswelt“, die den Kern des „Campus“ bildet, ist nicht ein beliebiger Verwaltungsbau, gefertigt nach gängigen Standards.
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Unternehmensgründer und -geschäftsführer Götz Rehn wollte einen Bau mit Vorbildcharakter entstehen lassen, doch zu einem vertretbaren Preis. Der Entwurf des Stuttgarter Architekturbüros Haas Cook Zemmrich Studio 2050 entspricht dem, was Rehn, die „kulturelle, geistige Dimension der Nachhaltigkeit“ nennt. In über 50 Sitzungen mit den Architekten wurden aus Rehns Ideen „konkrete Vorstellungen“. Die Firmenzentrale versucht nachhaltiges Bauen mit minimierten Ressourcen-Einsatz auf allen Ebenen zu erreichen.
Photovoltaik-Anlage ist Standard
Eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach ist längst Standard. Hier aber wurden Konstruktion und Nutzung grundlegend neu durchdacht. Selbst der energetische Aufwand des künftigen Abrisses nach mehr als 50 Jahren wurde mitberechnet. Das Gelände, auf dem gebaut wurde, erwies sich als schwieriger Baugrund. Es ist eine Konversionsfläche.
Aus einem Teil der Darmstädter Kelley Barracks der US Army wurde ein Unternehmensgelände mit Angeboten an die Öffentlichkeit, vom Kindergarten über private ökologische Ackerflächen bis zum vegetarischen Restaurant. Einst wurden hier Panzer gewartet, auf massiven Betonplatten, die heute – zerkleinert – Teile des Campus bilden, wie etwa ein Amphitheater oder Umfassungsmauern an der Einfahrt. Der verseuchte Sandboden wurde abgetragen.
Vorbild für nachhaltiges Bauen
Erst wenn man sich dem von der viel befahrenen Ausfallstraße zurückgesetzt angeordneten Campus nähert, erkennt man seine Besonderheiten. Zuerst kommt die asymmetrische Satteldachkonstruktion in den Blick. Deren Holzbinder berühren sich nicht, sie werden nur durch ein Oberlichtband verbunden, welches das Nordlicht in den für Tageslicht optimierten Innenraum lenkt. Die Tragwerksplanung stammt von Knippers Helbig aus Stuttgart.

Zwei ineinandergreifende geöffnete Hände, in einem frühen Entwurfsstadium als architektonische Figur bereits visualisiert, stehen symbolisch für den Charakter des Hauses, dessen Dach für das gemeinsame Wirken der Mitarbeiter darunter einen Schirm bildet. Kommt man näher, erkennt man die raumhoch verglaste Ostfassade. Besonders komplexe Bauteile wirken aus der Entfernung noch unspektakulär. Wenn man vor ihnen steht, erkennt man ihre leicht unregelmäßige Oberfläche.
Zweischalige, vorfabriziertene Stampflehmfertigteile
Alle Fassaden der Längsseiten bestehen aus 16 je 12 m hohen Wandscheiben aus zweischaligen, vorfabriziertenen Stampflehmfertigteilen. Lehm, als beliebtes Material für nachhaltiges Bauen, kann rasch Feuchtigkeit, etwa aus der Atemluft, aufnehmen und wieder abgeben. Es ist zwar einer der ältesten Baustoffe, dennoch kein übliches Material, schon gar nicht für den Wandaufbau eines Bürogebäudes mit 13 500 m² Bruttogeschossfläche.
Die ‚Arbeitswelt‘ ist der bislang größte Bau in Europa, der mit Lehmfassaden errichtet wurde, ein Paradebeispiel für nachhaltiges Bauen. So wurden die einzelnen Blöcke neben der Baustelle vom Lehmbaupionier Martin Rauch maschinell vorgefertigt. Jeder Block hat eine Kerndämmung aus recyceltem Schaumglasschotter. Auch wurde Material aus dem Aushub des Bahnprojektes Stuttgart 21 wiederverwendet. Ton- und Kalkschichten schützen vor Auswaschung der Oberflächen.
Die innere Lehmwand nimmt die Heizung auf, verbunden mit einer Geothermie-Anlage. Eine Kaseinlasur im Innenraum verhindert die Verstaubung des Lehms. Die Zusammensetzung der Wand muss „zwischen Eigengewicht, statischen Erfordernissen und Dämmverhalten“ genau ausbalanciert sein, wie Architekt Martin Haas erklärt.
Und er macht deutlich, dass für einen kostenbewusst konstruierten Verwaltungsbau die handwerkliche Komponente der Lehmbauteile möglichst gering sein sollte. „Nur dann hat der Baustoff eine Chance, wieder in unsere Baukultur reinzukommen.“
Schalldämpfung eine maßgebliche Rolle
Da der Campus im Wesentlichen aus einem großen Raum besteht, der neben Treppen, Brücken und Wegen nicht nur Treffpunkte bietet, sondern auch Arbeitsplätze für 450 bis 500 Mitarbeiter, spielt die Schalldämpfung eine maßgebliche Rolle.
Daher gibt es eine Vielzahl von akustisch wirksamen Bauteilen, angefangen von den in die Massivbetondecke eingelassenen Sorp-Streifen über Lamellenkonstruktionen um die Holzfenster herum, von textilen Oberflächen auf den Rückseiten der Möbel über große Teppichflächen oder dreilagige, raumhohe Vorhänge, die zur Abgrenzung temporärer Besprechungsbereiche genutzt werden. Die offenen Büros mit rechtwinklig zum Fenster angeordneten Schreibtischen folgen den Prinzipien einer non-territorialen Arbeitsorganisation.
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Dennoch gibt es bei im Unternehmen Abteilungen und interne Strukturen, die sich in der Raumfolge wiederfinden. Verbindende Treppen und „schöne Wegeführungen“, die Kommunikation fördern, spielen eine herausragende Rolle. Auch „Lümmelbretter“, spezielle Ablagen am Rand eines Geländers, die Martin Haas bereits für das innovative Unilever-Haus in der Hamburger Hafencity konzipierte, finden sich hier wieder.
Für die innere Ausgestaltung und Möblierung der ‚Arbeitswelt‘ sorgte die Innenarchitektin Pirjo Kiefer von Vitra mit ihrem Team. ‚Cds Workstations‘ von Antonio Citterio bilden die Schreibtisch-Grundstruktur, für deren Beleuchtung sorgen ‚Lavigo‘-Stehleuchten von Waldmann.
Designklassiker bei der Möblierung
Rückzugsorte bieten Möbel aus dem Vitra-‚Alcove‘-Programm von Ronan und Erwan Bouroullec. Für Stauräume kommt ‚Level 34‘ von Werner Aisslinger zum Einsatz. Dazu gibt es neben Eames- und vereinzelten Prouvé-Klassikern auch Sofas von Hella Jongerius und Jasper Morrison. Der Teppichboden stammt von Carpet Concept.
Trotz aller akustischen Dämpfung verlangt der Campus seinen Nutzern ein hohes Maß an gegenseitiger Rücksichtnahme ab. Es ist keine klösterliche Grundstimmung, die hier die Zusammenarbeit prägt. Doch mit Sicherheit ist dies kein Ort für laute Selbstdarsteller. Wenn Götz Rehn auf den Erfolg seines Unternehmens angesprochen wird, löst er Erfolg auf in: „Folgenreich tätig mit anderen Menschen“.
Architekten, Bauherr und beteiligte Spezialunternehmen haben mit diesem Bau demonstriert, wie das geht.
Ein Interview mit den Architekten über ökologisches Bauen mit Vorbildcharakter finden Sie hier
Haas Cook Zemmrich Studio 2050
Mit dem Ziel, menschen- und umweltfreundliche Lösungen zu entwerfen, arbeitet das Studio an Stadtplanungs- und Architekturprojekten weltweit.
Factsheet
Projekt: Alnatura Campus
Standort: Mahatma-Ghandi-Straße 7, 64295 Darmstadt
Bauherr: Campus 360 GmbH
Bauaufgabe: Unternehmenszentrale
Fertigstellung: 2019
Grundstücksgröße: 55 000 m2
Geschosse: 3
Nutzfläche: 13 500 m2
Materialien (Decke, Wand, Boden): Holzdach, Stahlbetondecken und Stampflehmwände, Farbe: Caparol
Möblierung: Vitra
Sanitärkeramik: Keramag / Geberit
Beleuchtung: Bega, Foscarini, Moltoluce, Nimbus, Waldmann
Teppiche: Carpet Concept
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