Betritt man den Innenhof des Convento delle Grazie, so ist man zunächst überrascht: Die Akustik ist klar, die Temperatur – trotz sommerlicher Wärme – geradezu mild. Das Summen und Brummen der Straße bleibt draußen. Sanftes Tageslicht trägt zur ruhigen Atmosphäre des über 500 Jahre alten Klosterbaus bei. Es herrscht eine genussvolle Gelassenheit.
Grund dafür ist eine transluzente, textile Membran, die sich wie eine schützende Hand über den allseitig umschlossenen Klosterhof legt. Sie schirmt das direkte Sonnenlicht ab und ist zugleich akustisch wirksam. Die polygonalen Linien dieser Dachkonstruktion und ihre feingliedrigen Stützen fügen sind mit Bedacht in das historische Umfeld ein. So entsteht ein Raum, der zum Vorboten für das gesamte Projekt ‚M9‘ wird, bei dem Sauerbruch Hutton virtuos Zeitschichten und Architekturen, Strukturen und Räume, Materialien und Atmosphären miteinander zu einem neuen Stadtbaustein verweben. Wer künftig einen Besuch in Venedig plant, kommt nicht mehr umhin, der Lagunenstadt den Rücken zu kehren und endlich ihre Schwester Mestre aufzusuchen.
Mestre gehört verwaltungstechnisch zu Venedig. Doch für viele ist dieses Stadtgebilde unsichtbar – hier muss man durch, um über die Brücke nach Venedig zu gelangen. Das ist eigentlich schade. Denn in Mestre findet man das, was man in Venedig kläglich vermisst: italienische Alltäglichkeit zwischen historischem Stadtkern, Bürobauten und Wohnhäusern aus allen Jahrzehnten. Einzig an kulturellen Angeboten mangelte es – bis jetzt.
Kluge Wegeführung
Zentraler Baustein der Stadterneuerung ist das Museumsquartier ‚M9‘ von Sauerbruch Hutton, die den Wettbewerb 2010 für sich entscheiden konnten. Sie entwickelten einen Ort lokaler Identifikation, weil sie neben dem (neu gebauten) ‚Museo M9‘ und kommerziellen Nutzungen (im Bestand des Convento) vor allem eine kluge Wegeverbindung in das urbane Gefüge Mestres einflechten.
Die neue Erschließungsachse führt durch einen bisher unzugänglichen Block und verbindet die Piazza Erminio Ferretto mit der Via Cappuccina, einer unaufgeregten Straße mit Tramanbindung, kleinen Geschäften und Wohnhäusern. Als diagonale Erschließung leitet sie den Fußgänger durch den eingangs erwähnten Innenhof des Convento delle Grazie hin zu einer neuen Piazzetta, dem zentralen öffentlichen Raum des Museumsquartiers. Es ist ein kleiner Platz von gelungener räumlicher Proportion, der den Neubauten respektvollen Abstand zum alten Kloster verschafft, was dazu führt, dass ein jedes Gebäude genügend Raum zur eigenen Präsenz erhält.
Vor allem in seiner Heterogenität besticht das Ensemble: Sauerbruch Hutton verbinden sensibel Bestand und Neubauten: mit klugen Interventionen, mit feinen Ausführungsdetails und einer abgestimmten Palette unterschiedlicher Materialien. Den behutsam sanierten Klosterbau aus dem 16. Jahrhundert haben die Architekten für eine Gastronomie- und Coworking-Nutzung erschlossen. Man möchte eine urbane Stadtgesellschaft für das Quartier gewinnen.
Neues belebt das Alte
Von oben wirkt der Museumsbaukörper wie durchgetrennt. Das resultiert aus seiner städtebaulichen Setzung: Plangrafisch füllt das Museum praktisch das gesamte bebaubare Areal, gliedert sich jedoch durch die vorgesehene diagonale Wegeverbindung in zwei Teile. Der kleinere dient als Verwaltungsbau, der größere beherbergt das Museum samt Auditorium, Mediathek und Café sowie die Ausstellungs- und Veranstaltungsräume.
Dazu kommen zwei kleinere, eingeschossige Betongebäude. Sie flankieren mit ihren Kopfseiten die kleine Piazetta am westlichen Rand. Beide zitieren in ihrer archaischen Grundform Stallungen, die aufgrund ihres schlechten Zustandes auf der vormals militärisch genutzten Fläche nicht erhalten werden konnten. Mit ihren ausgewogenen Proportionen verleihen die unterschiedlichen Gebäudevolumen dem neuen Quartier einen menschlichen Maßstab.
Jedoch nicht nur die Formensprache verbindet den Verwaltungsbau mit dem Museumsbau, sondern auch das Material ihrer Fassaden. Beide Gebäude sind mit länglichen, schmalen Keramikfliesen verkleidet. Dafür wurden sowohl rote wie weiße Scherben eingesetzt, die in Rot-, Braun- und Grautönen glasiert und mit einer weiteren transparenten Glasur versehen wurden. Dies verleiht der Keramikfassade eine lebendige Textur und eine besondere Tiefe, wie sie mit einer farbigen Metallverkleidung niemals erzielt werden könnte.
Während die städtebauliche wie architektonische Spannung zwischen Alt und Neu vom zurückhaltenden Grundton des Ensembles bestimmt ist, sprechen im Inneren des Museumsgebäudes rauer Beton und Holz mit dominanter Stimme.
Im Erdgeschoss empfängt den Besucher des Museums nicht nur das Foyer, sondern auch ein Auditorium, das sich wie ein römisch-antikes Theater in das Erdreich gräbt. Sowohl das Auditorium als auch die Holzeinbauten sowie die Decken- und Wandverkleidungen sind in Baubuche ausgeführt. Große, runde Oberlichter in den Decken wirken wie lichte Inseln und tauchen das Erdgeschoss in ein diffuses, weiches Licht.
Puristische Oberflächen
Die warme, glatte Oberfläche des Holzes steht im Kontrast zur „ehrlichen“ Verarbeitung des Betons an den Wänden. Um genau zu sein: Man möchte gar nicht damit aufhören, diese zu streicheln. Die Textur ist das Ergebnis einer schmalen Holzlattenschalung und nach Jahren des vielerorts verbreiteten, seidenglatten Sichtbetons ein herrliches Erlebnis für Hände und Augen.
Die Lebendigkeit der rauen Betonwände kann der Besucher auf der eindrucksvollen Treppe erfahren, die vom Foyer zu den Ausstellungs- und Veranstaltungsräumen der beiden Obergeschosse führt. Ein feiner Handlauf aus Holz auf zierlichen Metallstützen befindet sich in der Mitte der Treppe. So bleibt die Textur der Wände ungestört. Die Treppe ist eine fast theatralische Geste für den sonst in seinem Inneren recht zurückhaltenden Bau. Und ein Erlebnis, dem selbst der behäbigste Besucher keine Fahrstuhlfahrt vorziehen wird.
Die Ausstellungs- und Veranstaltungsräume hingegen sind ihrer Nutzung angemessen funktional. Das erste Obergeschoss ist eine Black Box und dient der interaktiven Dauerausstellung zur „Geschichte Italiens des 20. Jahrhunderts“. Im durch Tageslicht beleuchteten Obergeschoss finden Wechselausstellungen ihren Raum.
Das Obergeschoss überzeugt architektonisch nicht nur durch seine markanten Trägerstrukturen an der Decke, sondern auch durch seine wunderbaren Ausblicke. Nach Süden schaut man über die Dächer der Stadt in Richtung Mestre Hafen und Marghera. Eine breite Fensterfront im westlichen Bereich des Ausstellungsraums gibt den Blick auf das neue Museumsquartier frei und verdeutlicht aus dieser Perspektive noch einmal die große Sensibilität, mit der Sauerbruch Hutton bei diesem Projekt vorgegangen sind – und wie gut sich die Körnigkeit des Museumsquartiers in die Heterogenität Mestres einfügt.
Sauerbruch Hutton ist mit dem ‚Museo M9‘ ein Stadtbaustein gelungen, der mutig die Klaviatur der Kontraste über Material und Volumina spielt, diese aber mit großer Behutsamkeit durch eine gelungene Detailausführung in den Bestand einwebt. Jetzt fehlt nur noch ein wenig die Patina des Alltags. Aber das ist bekanntlich nur eine Frage der Zeit.
Das Interview mit Sauerbruch Hutton zum Museum
Architekten
(v.l.n.r.) Matthias Sauerbruch, Louisa Hutton, Juan Lucas Young
Büro: Sauerbruch Hutton
Gründungsjahr: 1989
Mitarbeiter: rund 90
Arbeitsgebiete: Architektur, Städtebau und Gestaltung
Portrait: Claire Laude
Fact Sheet
Projekt: M9 Museumsquartier
Standort: Via Pascoli 11, 30171 Mestre VE/I
Bauherr: Polymnia Venezia srl, Venedig/I
Bauaufgabe: Museumsneubau mit Mediathek und Auditorium sowie Umnutzung von Bestandsgebäuden zu Büros, Konferenzzentrum, Einzelhandel, Gastronomie
Fertigstellung: Dezember 2018
Geschosse: fünf (EG + 3 OG + 1 UG)
Bruttogrundfläche: 25 600 m² BGF
Materialien: Fassade: NBK Keramik GmbH, Emmerich am Rhein; Holzeinbauten im Innenraum: Pollmeier Massivholz GmbH & Co. KG, Creuzburg
M9 Museum quarter in Mestre, Venice/Italy
The masters in Mestre
Enter the inner courtyard of Convento delle Grazie and you will face a surprise. The acoustics are clear, the temperature almost mild despite the summer heat. The hustle and bustle
of the street is trapped outside. Soft daylight contributes to the calm atmosphere in the more than 500-year old convent building. You are surrounded by a delightful serenity.
This is due to the translucent fabric membrane that covers the convent’s courtyard, which is enclosed on all sides, like a protecting hand. It serves as a shield against direct sunlight and is acoustically effective. The polygonal lines of this roof construction and its slender supports merge carefully with the historical environment. In this way a space comes into being that is, so to speak a harbinger of the whole M9 project, in which Sauerbruch Hutton masterfully interlace layers of time and architectures, structures and spaces, materials and atmospheres into a new city element. For everybody planning a visit to Venice in the future it is now a must to turn their back on the lagoon city and finally pay a visit to its twin sister Mestre.
Administratively speaking, Mestre is
a part of Venice. To many people, however, this urban area is next to invisible. You have to pass it to reach Venice via the bridge, which actually is a pity. In Mestre you will find what you desperately miss in Venice: Italian everyday life in a historical town center, between office and residential buildings from all decades. There had only been a lack of cultural activities – up to now.
Clever guidance
The M9 Museum quarter is the central element of the urban renewal, implemented by Sauerbruch Hutton who won the competition for it in 2010. They developed a place of local identification because they integrated clever guiding routes into Mestre’s urban structure in addition to the (newly built) Museo M9 and the commercial use of the existing convent buildings.
The new access axis runs through an up to now inaccessible block and connects Piazza Erminio Ferretto with Via Cappuccina, a calm street with a streetcar station, small shops and residential buildings. This diagonal access route guides pedestrians through the already mentioned inner courtyard of Convento delle Grazie and on to a new piazzetta, the new central public space of the museum quarter. This is a small square with pleasant spatial proportions, providing a respectful distance for the new buildings in relation to the old convent so that each individual building has enough space to present itself.
It is most of all its heterogeneity that hallmarks the ensemble. Sauerbruch Hutton sensitively combine existing and new buildings with smart interventions, subtly executed details and a matching range of diverse materials. The architects have opened the carefully renovated convent from the 16th century to gastronomical enterprises and co-working purposes because the aim is to attract an urban city society to the quarter.
New parts revitalize old elements
Seen from above, the museum structure looks like it has been divided into parts, resulting from its urban-planning settlement. According to the plans, the museum fills almost the whole undeveloped area, but as a result of the intended diagonal connection, it is divided in two parts. The smaller element serves as an administrative building, the larger one accommodates the museum complete with auditorium, media center and café, plus exhibition and event facilities.
There are also two smaller, one-storey concrete buildings.
Their main ends confront the small piazzetta on the Western fringe. With their archaic basic shape they are reminiscent of the stables formerly used by the military that could not be preserved because of their poor structural condition.
Thanks to their balanced proportions the various building volumes convey a human scale to the new quarter.
However, it is not only the stylistic idiom that connects the administrative building to the museum, but also the material of their façades. Both are clad with long and slim ceramic tiles. For this purpose, both red and white shards were used and then glazed in red, brown and grey shades, on which finally another transparent layer was applied. In this way, a lively texture and a special depth are achieved on the ceramic façade which would have never been possible with colored metal cladding.
Urban-planning and architectural tension between old and new are determined by the reticent basic note of the ensemble; inside of the museum building, however, rough concrete and wood play a dominant role.
At entrance level visitors are not only welcomed by the foyer but by an auditorium that has been dug into the earth like an antique Roman theater. The auditorium, wooden fittings, the ceiling and wall claddings have been made of building beech. Large round skylights in the ceilings appear like bright islands and immerse the first floor in a diffuse, soft light.
Purist surfaces
The warm, smooth surface of the wood contrasts with the “honestly” processed concrete on the walls. You just don’t want to stop caressing them. The texture is achieved by a slim wooden slat formwork and a wonderful experience after all these years of extensively used silky exposed concrete.
Visitors can experience the liveliness of the rough concrete walls when they walk up the impressive stairs leading from the foyer to the exhibition and event rooms of the two upper levels. In the center of the stairs there is a fine handrail of wood on dainty metal supports, leaving the texture of the walls undisturbed. The stairs are an almost theatrical gesture in an otherwise quite reticent building interior. And using them is an experience that even the laziest visitor will prefer to the elevator.
In contrast to the stairs, the exhibition and event facilities are duly functional as befits their purpose. The upper floor is a black box used for an interactive, permanent exhibition on Italy’s history of the 20th century. Changing exhibit-ions are staged on the floor lit by daylight. Architecturally, the upper floor convinces both by its striking load-bearing structures on the ceiling and by the magnificent views it offers. Toward the South you look over the roofs of the city to Mestre’s harbor and Marghera. In the Western part of the exhibition area a broad window front opens up the view to the new museum quarter, illustrating once again how sensitively Sauerbruch Hutton proceeded with this project and how well the granularity of the museum quarter matches Mestre’s heterogeneity.
With ‘Museo M9’ Sauerbruch Hutton succeeded to implement a city element that courageously plays on the keyboard of contrasts with materials and volumes, interweaving them very carefully with the existing buildings due to a great attention to details. All that is needed now is a bit of patina produced by everyday life. But this is, as we all know, only a question of time.
Architects
(f.l.t.r.) Matthias Sauerbruch, Louisa Hutton, Juan Lucas Young
The Sauerbruch Hutton studio is founded in 1989. A staff of 90 is working on architecture, urban planning and design. www.sauerbruchhutton.com
Fact sheet
Project: M9 Museum Quarter
Location: Via Pascoli 11, 30171 Mestre VE/I
Client: Polymnia Venezia srl, Venedig/I
Task: new museum building with media center and auditorium, plus conversion of existing buildings into offices, conference center, retail shops, gastronomical enterprises
Completion: 2018
Floors: five (first floor, three upper floors, basement)
Gross ground area: 25,600 m²
Materials: Façade: NBK Keramik GmbH, Emmerich am Rhein, https://nbkterracotta.com
Interior built-in wood fittings: Pollmeier Massivholz GmbH & Co. KG, Creuzburg, www.pollmeier.com