Nur wenige Menschen besitzen die Fähigkeit, visionär zu denken. Zu diesen wenigen gehörte mit Sicherheit Ferdinando Bocconi. Der weitsichtige Textilunternehmer und Kaufhausbesitzer gründete 1902 in Mailand die Università Bocconi.
Zunächst war die Hochschule im Stadtviertel Brera angesiedelt, in einem Gebäude entworfen von Ingenieur Giorgio Dugnani. Nach 35 Jahren wurde jedoch der Umzug in ein größeres Gebäude nötig. 1937 begannen die Bauarbeiten in der Gegend von Porta Luduvica, unweit des Parco Raviazzi.
Vier Jahre später zog die Wirtschaftsuniversität in den vom Architekten Giuseppe Pagano entworfenen Bau in der Via Sarfatti 25, bis heute Hauptsitz der Bocconi Universität. Noch viele große Architekten sollten ferner ihren Aufbau prägen.
Università Bocconi: Zeugnis der Moderne
Zurück zu den Anfängen: Pagano, ein bedeutender Vertreter des Rationalismus, starb jedoch kurz nach der Fertigstellung. Der funktionale Bau mit klarer Linienführung besitzt eine Reihe von Innenhöfen und wurde von ihm bis ins kleinste Detail durchgeplant. Trotz einiger Umbauten und einer Aufstockung hat das Bauwerk noch seinen ursprünglichen Charakter erhalten.
Hier wird klar, dass es sich bei der Bocconi nicht nur um eine Hochschule mit einem breiten Angebot an Bachelor-, Master- und Executiveprogrammen sowie weltweiten Kontakten zu Großunternehmen handelt. Die private Institution setzt abgesehen von einer exzellenten Berufsausbildung auf ethische und kulturelle Werte und das persönliche Wohlbefinden ihrer Studenten.
Ihre Architektur spiegelt zumal diesen Anspruch wider und die vielen Bauten sind so etwas wie eine kleine Architekturgeschichte der letzten 80 Jahre: ein Zeugnis der Moderne.
1956 kam der Bau von Giovanni Muzio dazu: ein Studentenwohnheim mit Kantine in der Via Bocconi 1. Muzio vertrat, wie auch Gio Ponti, die historische Gegenbewegung zum Rationalismus, Novecento genannt. Allgemeine Bekanntheit erlangte er mit seinen Mailänder Bauten der Triennale und der Ca’ Brutta.
Mit seinem Sohn Lorenzo baute Muzio 1966 für die Bocconi weiter; in der Via Sarfatti, jedoch mit Eingang von der Via Gobbi 5, entstand ein Gebäude für Lehrräume, Aula und die berühmte Bibliothek, die heute gut 600 000 Bände umfasst.
Neue Bautätigkeit
Das stetige Wachsen der Studentenzahlen zwingt die Universität in den 1980er-Jahren zu neuen Bauaufträgen. Der Ingenieur Vittore Ceretti baut 1986 einen stufenförmigen Bau, den er 2001 schliesslich noch einmal erweitert für die SDA Bocconi School of Management.
Im selben Jahr realisiert Ignazio Gardella ausserdem an der Piazza Straffa 13 einen elliptischen Ziegelbau mit zentralem Lichtschacht für Lehrräume.
Ebenfalls 2001 gewinnen die Architektinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell von Grafton Architects den internationalen Wettbewerb für den Neubau an der Ecke zwischen Via Bligny und Via Roentgen für die Aula und Büros der Professoren.
Es sind massive Volumina aus grauen Geppo-di-Gré-Stein, die von einer expressiven, monumentalen Architektur zeugen. Die Architektinnen aus Irland sollen sich erst einige Jahre später durch die Leitung der Architekturbiennale 2018 und den Pritzker Preis 2020 internationaler Bekanntheit erfreuen.
Auftrag für einen neuen Campus
Auch der Auftrag für den neuen Campus ist das Ergebnis eines hochkarätigen internationalen Wettbewerbs, der im Jahr 2012 stattfand und von Studio Sanaa vor David Chipperfield, Mario Cucinella, Odile Decq, Thom Mayne, Massimiliano Fuksas, Rem Koolhaas, Sauerbruch & Hutton, Benedetta Tagliabue und Cino Zucchi gewonnen wurde.
Auf dem 35 000 m² großen Areal der ehemaligen Milchzentrale der Stadt (Centrale del latte), angrenzend an den Parco Ravizza, realisiert das japanische Duo Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa seinen Entwurf, den ersten in Italien. Es handelt sich um den neuen Sitz für die SDA Bocconi School of Management. Wir sprechen von 13 000 Studierenden, die die Master- und Executivekurse besuchen und einen neuen, eigenen Campus benötigen.
Hinzu kommen ein weiteres Studentenheim und ein Sportzentrum. In Zahlen bedeutet es Bauten auf 18 000 m² Nutzfläche sowie 17 000 m² Grünanlagen. Der Bezug zur Stadt, mit Haupteingang auf der Nordseite, wo sich die alten Bocconi-Bauten befinden, ist interessant.
Die neuen Gebäude bilden eine moderne Version der für Mailand so typischen Innenhöfe. Zylindrische, durchsichtige Bauten mit fließender Linienführung. Ihre verglasten Fronten weisen Richtung Innenhöfe, während die Fronten nach außen mit einer vorgehängten Struktur aus Streckmetall versehen sind, eine Lösung, die auch als Sonnenschutz funktioniert.
Verzögerung beim Bau
Die Covid-19-Pandemie hat die Baumaßnahmen verlangsamt. Im März und April war kompletter Stillstand. Weitere Verzögerungen bis zur Fertigstellung des kompletten Campus sind wahrscheinlich, doch das meiste steht.
Bereits im August 2018 wurde das Studierendenwohnheim ‚Dorms‘ eingeweiht und im November 2019 die Gebäude der SDA.
Bis zur Fertigstellung von Sportzentrum und Park, die nicht nur den Studierenden, sondern der gesamten Bevölkerung Mailands zur Verfügung stehen, muss man sich noch etwas gedulden. Spätestens im April 2021 sollte alles fertig sein.
Besuchern der kommenden Mailänder Möbelmesse sei gesagt: Ein Abstecher zur Bocconi lohnt sich. Es reicht ein Spaziergang um wenige Hausblocks, um sich in einer Art Freilandmuseum ein Bild von der Architektur der Moderne zu machen.