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Ido Garini, Studio Appétit

Portrait über einen mit kreativer Unruhe
Ido Garini, Studio Appétit

Ido Garini, 35, hat die Inszenierung von Speisen auf eine neue Ebene gehoben. Mit seinem Amsterdamer Studio Appétit revolutioniert er die Food-Welt und kreiert multisensorische Erfahrungen und eindrückliche Geschmackserlebnisse.

Autor Oliver Herwig

Seine Lieblingsspeise: Schokolade. Seine Lieblingsarbeitsform: kreative Kollaboration. Seine Charakteristik: Perfektion. Seine Selbstdiagnose: „Creative ADHS“. Es ist diese kreative Unruhe, die Ido Garini nicht still sitzen lässt.

Beständig hat er mehrere Projekte im Gepäck, knetet an Food-Inszenierungen und multisensorischen Erlebnissen. Mal steckt er Früchte unter eine Glasglocke, dann spießt er sie auf konischem Porzellan auf, das eigens für ihn entwickelt wurde.

Und immer geht es ums Mitmachen, Miterleben, Mitgenießen. Ido Garini ist für die Inszenierung von Essen das, was Ferran Adrià für die Weiterentwicklung der klassischen Haute Cuisine war: ein Gamechanger. Und wenn der 35-Jährige mal einen Vortrag hält, wie 2017 in München, bezaubert er das Publikum mit einer entwaffnenden Mischung aus Begeisterung und Ehrlichkeit. Der Experte in Geschmacksfragen hat einen Riecher für Veränderung. Etwa beim klassischen Afternoon Tea (hierzulande gerne als „Five-o’-clock-Tea“ bezeichnet), eine englische Tradition vom Range eines Weltkulturerbes.

Sie wird zelebriert, klassischerweise in einem guten Hotel, mit Sekt, Scones, Clotted Cream und Cucumber-Sandwiches. An eine solche Tradition legt niemand Hand an, es sei denn, man will sich daran verbrennen. Oder hat eine verwegen gute Idee.

Weltenbummler Ido Garini, der lange Zeit in New York City lebte und nun mit seinem Team von Amsterdam aus mit Studio Appétit die Welt der Food-Inszenierung revolutioniert, hatte eine solche Idee.

Man könnte auch sagen: Bei ihm kam alles auf den Tisch – und dann dekonstruierte er das Ritual, um es noch ein Stück deliziöser zu machen. Ido Garini eröffnete mit der multisensorischen Collage ‚The Art of Afternoon Tea‘ für die Londoner Rosewood Hotels eine Bühne, auf der Mensch und Tun, Gebäck und Gaumen in einer mehrgängigen Aufführung verschmelzen. Gläser, Besteck und Porzellan sind nicht länger Teile, die irgendwelche Funktionen erfüllen, sie sind Partner der Inszenierung.

Kunst des Augenblicks

Die erste Inszenierung entwickelte Ido Garini in Zusammenarbeit mit dem British Museum. Hier soll sich jeder ein eigenes Bild machen von der „Art of Afternoon Tea“, einem der „kultigsten Rituale der britischen Luxusgastfreundschaft“, wie Garini betont. Er warf einen Blick auf die Idee hinter der Tradition. Rodin wirkte als Katalysator. Wer die Kunst auf dem Tisch erkennt, versteht auch, dass es sich bei dem Nachmittagsimbiss selbst um eine Kunstform handelt, die sich nicht (mehr) hinter der bildenden Kunst verstecken muss. Früher hätte man wohl Gesamtkunstwerk dazu gesagt. Im Mirror Room empfängt ein französischer Soundtrack die Gäste, dazu ein großer, duftender „Schokoladenstein“, an dem scheinbar gerade gemeißelt wird. Liegt da nicht ein hämmerndes Geräusch in der Luft?

In der mit Gewürzen und Blüten gefüllten Schokolade tauchen schimmernde kristallisierte Veilchen auf. Die Gäste sollen selbst ein Stück Schokolade abhacken und mitnehmen und zwar in eigens gefertigten Miniboxen mit dem Rosewood-Siegel.

Sodann erhalten die Gäste Finger-Sandwiches und frisch gebackene Scones mit einer korrespondierenden Auswahl an Mariage Frères-Tees. Ein Expertenteam verkostete über 800 Sorten, bevor es eine Liste der besten Kombinationen erstellte. Nach Scones mit hausgemachtem Zitronenquark oder Erdbeer- und Holunderblütenmarmelade kulminiert der Tee mit einem Dessert-Trio – sorgfältig gefertigten Patisserien, die traditionelle französische Backtechniken verwenden und die Essenz von Rodins Werk einfangen sollen, denn der französische Bildhauer diente als Inspirationsquelle der Inszenierung. Also kommen französische Mehlspeisen auf den gedeckten Tisch.

Ein Macaron mit Blütenaromen und einer Zeichnung von Rodin. Dieser verehrte Charles Baudelaire und insbesondere dessen Gedichtzyklus‘ „Les Fleurs Du Mal“ („Blumen des Bösen“), die er illustrierte. In London wurden aus Rodins Zeichnungen Esserlebnisse. Die Details: Wo traditionell eine Etagere auftritt, um die einzelnen Köstlichkeiten zu präsentieren, erfand Garini eine dreistufige Vitrine aus Stahl und Quarz, auf der die Schnittchen gleichermaßen sichtbar und riechbar bleiben, aber doch eine gänzlich eigene Rolle annehmen. Die Hand muss eine Schwelle überschreiten, jeder Schritt wird hier bewusst zelebriert. Das ist sein Kennzeichen. Kleines wird ganz groß. Gleich, ob Garini Erdbeeren auf Obelisken steckt oder Patisserie auf Marmorpodeste und durchsichtige Kuben – die Einzelteile werden in ihrer Bedeutung stark überhöht und manchmal dadurch erst bewusst gemacht.

Garini zerlegt das Ritual – wie etwa den „Tortenständer“ – zunächst in seine Einzelteile, überprüfte seine Funktionen, wie etwa Tragen und Präsentieren und entwirft daraus einen neuen Kontext, der sich in diesem Fall an die Kunst anlehnt. Zusammen mit dem British Museum, in dem gerade eine Rodin-Retrospektive stattfand, entwickelte er Gussformen für Schokoladen-Torsi und Schattenrisse des Denkers, der nun auf einer Schnittfläche der Sandwiches prangt: Soll ich das wirklich essen – oder doch lieber fotografieren?

Die kunstvoll belegten und wie mit dem Rasiermesser geschnittenen Sandwiches jedenfalls erhalten durch den filigranen Rahmen neue Präsenz. Das betrifft kleine, aber feine Änderungen. Garini protzt mit Ideen und Material, versteckt aber zugleich das allzu Prunkvolle. Ihm geht es um den „dezenten Luxus“, der sich auf den zweiten Blick entfaltet.

Ido Garini zelebriert die Kunst der Steigerung

Wie das prächtige Dekor des Porzellans, das erst in der Reflexion des Marmortisches erscheint. Was für ein schöner Einfall! Wer käme schon auf die Idee, Gold auf die Tassenunterseite zu verbannen, wodurch es nur indirekt wahrgenommen werden kann. Die geometrischen Muster übrigens sind von der Architektur von Rosewood London und den Vitrinen des British Museums inspiriert. Und das Porzellan selbst wurde zusammen mit William Edwards entworfen. Das Gebäck, das das Menü abschließt, kommt auf einer Quarzgleitfläche von Cosentino inmitten einer Nachspeisenvitrine daher. Das Geheimnis der Inszenierung, laut Garini: akustische und interaktive Elemente „ergänzen und übersteigern den kreativen und visuellen Part.“

Ido Garini verbindet zwei Seiten einer Aufführung. Subtile Opulenz und Luxus auf den zweiten Blick. Wenn also das Geschirr zur Leinwand werde, wie Ido Garani sagt, eröffne sich auch eine Projektionsfläche eigener Wünsche, Träume und Vorstellungen, die in der Zeremonie immer enthalten waren aber nun subtil aufscheinen. Was als verstaubtes Ritual für die Generation 60 galt, hat Garini in die Gegenwart geholt – als ziemlich coole Angelegenheit, leicht und luftig, eine Meditation über flüchtige Genüsse mit einem Glas Champagner in der Hand. Nichts ging hier ohne eine umfassende Recherche, jede Änderung der Zeremonie musste so lange geprobt werden, bis eine „kugelsichere Ausführung“ sicher war.

Das Ergebnis – und hier klingt zum ersten Mal etwas Stolz aus Ido Garani: „Null Beschwerden“. Stattdessen nur zufriedene Gesichter bei den Gästen und dem Personal, das für das Ritual eigens geschult wurde. Nichts überließ der Gamechanger dem Zufall. Und gewann mit seiner perfektionistischen Verbindung aus Ess- und Teegeschirr, Tee- und Speisen-Kuration, Dessertdesign, Servicestil, visueller Identität und Kommunikationsleistung.

Die gesamte Inszenierung wird vier Mal pro Jahr ausgetauscht und erneuert. Drei Angestellte machen den Kern des Studios Appétit aus, den Rest übernimmt ein Netzwerk aus Freiberuflern, die Garini nach Bedarf einschaltet. Das verleihe ihm die nötige Flexibilität und Freiheit, Dinge mal ganz anders anzugehen, sagt Ido Garini. Schon immer hatte ihn gestört, dass man an der Uni Stühle entwarf, und zwar gute und funktionale, aber nie ausreichend über das Sitzen an sich nachdachte. Dem zu engen Fokus entkam der selbst ernannte Mixologist und Lichtdesigner schon früh durch vielfältige Studien: Nach seiner Jugendzeit in der Hotellerie studierte er an der Design-Schule am israelischen Holon Institute of Technology und setzte seine kulinarische Ausbildung durch Kurse am French Culinary Institute in New York und an der Yale University fort. 2011 gründete Garini das Studio Appétit in New York City und verlegte es 2013 nach Amsterdam. Zu diesem Zeitpunkt, berichtet Garini, sei die Metropole am Hudson eher ein Ort gewesen, an dem man Design verkauft, und keiner, an dem man Design entwickelt. Das klingt befremdlich angesichts von Hunderter, ja Tausender Start-Ups, die es am Hudson oder East River versuchen wollen und vom kreativen Spirit der Stadt schwärmen. Ido Garini jedenfalls zog in die Niederlande und startete so richtig durch.

Kunst der Knappheit

Was ist der nächste Schritt? Ido Garini ist dabei, unsere Vorstellung von Essen und der Präsentation von Nahrungsmitteln grundlegend zu verändern. Mit seinem multidisziplinären Experimental-Designstudio und seinem Konzepthaus in Amsterdam berät er große Firmen weltweit.

Der Kreativdirektor will nichts weniger, als „die Grenzen des Verbrauchererlebnisses zu durchbrechen und neue Wege zu entdecken, um Menschen mit sich selbst, anderen und Marken in Verbindung zu bringen.“

Was so hochgestochen klingt, ist ganz einfach: Garini findet Wege zu umfassenden sinnlichen Erfahrungen. Schließlich gebe es nur zwei Tätigkeiten, bei denen Menschen alle Sinne einsetzen: Essen und Sex.

Seine Aufgabe als Schöpfer von Erfahrungen sei es, Marken holistisch begreifbar zu machen und sie neu aufzuladen: Eine gute Erfahrung sei eine, die sensorische Stimulation einschließe und Emotionen auslöse. Und dann fragt Ido Garini rhetorisch: Wie können wir etwas auf eine ganz andere Art tun als üblich? „Durch etwas ganz Einfaches: Essen. Sie müssen nur einen Bissen zu sich nehmen.“

Weitere Geschmackserlebnisse

Ido Garini auf der TEDxMünchen

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