In München ist Olympiade, in Kassel zelebriert die documenta 5 individuelle Mythologien – und Apollo 16 absolviert die fünfte Mondlandung. Da winden sich Schichten schnöder Wellpappe, als kopierten sie eine aufgescheuchte Klapperschlange, die sich unter der sengenden Sonne der kalifornischen Mojave-Wüste aus dem Staub macht.
Ihre Bewegung kennt so wenig Winkel und Gerade wie diese Möbel, die eben nicht aus Holz oder Kunststoff, sondern in Schlaufen zu einem mäandernden Band aus Pappe geformt sind – ohne Schlangenkopf, wohlgemerkt.
Pappmöbel von Frank O. Gehry
„To wiggle“ bedeutet schlängeln, und wer 1972 mit „Wiggle Side Chair“ und „Wiggle Stool“ erfolgreich den Schlangenbeschwörer gibt, ist kein Geringerer als der heute weltberühmte Architekt Frank O. Gehry. Ihn und einen Prototyp aus seiner Experimentalwerkstatt präsentiert Dieter Engelmann auf dem Cover der md 11/1972 – als grobkörnig in Schwarzweißkontraste aufgelöste Fotografie, unterlegt mit frischem Olivgrün.
Easy Edges machen Gehry bekannt
Die als Billigmöbel konzipierte Serie der Easy Edges macht Gehry schlagartig bekannt – lange bevor jenseits rechter Winkel und gerader Linien seine extravaganten Dachhäute aus schimmerndem Titan entstehen, deren individuelle Krümmung sich nur per Computer berechnen lässt.
Die Pappmöbel sind derart begehrt, dass Gehry die Produktion nach nur drei Monaten stoppt. Er befürchtet, er werde fortan als bekannter Produktdesigner, nicht aber als ernsthafter Architekt wahrgenommen.
Entdeckt hat er das Verfahren, wie man aus schlichtem Verpackungsmaterial pfiffige Möbel machen kann, als er in seinem Büro einen Stapel Wellpappe liegen sieht, aus der er gewöhnlich Architekturmodelle baut. Auf die Kante gestellt, ergeben die verleimten Papplagen einen stabilen, Geräusche dämpfenden Werkstoff, den er „Edge Board“ nennt.
Dekonstruktion des Konstruktionsprinzip
Die Pointe: Schon in seinen Easy Edges erkundet Gehry spielerisch den Rand des Üblichen. Indem er das sich schlängelnde Innenleben der Wellpappe in der skulpturalen Form offenlegt, dekonstruiert er lässig ihr Konstruktionsprinzip.
Schon bald wird die Dekonstruktion zum Markenzeichen seiner Architektur werden.
Auf die Frage, ob Möbel einfacher zu entwerfen seien als Gebäude, hat Gehry geantwortet: „Einen Stuhl zu gestalten, ist so, als würde man den Mount Everest besteigen wollen – es ist also eigentlich unmöglich, deshalb liebe ich es und habe richtig viel Spaß mit der Aufgabe. Ich mache das immer anstelle von Kreuzworträtseln.“ Reptil mit acht Buchstaben?
Autor Thomas Wagner
war Feuilletonredakteur der FAZ, hat für Stylepark ein Onlinemagazin aufgebaut, lehrt als Honorarprofessor und ist Autor zahlreicher Texte über Kunst, Design und Architektur.