Die Wechselwirkung Mensch-Raum litt bislang unter der Differenzierung ‚Mensch gleich Leben‘ – ‚umgebender Raum gleich tote Materie‘. Nur Musiker wussten Raum zum Klingen und zum Leben zu erwecken. Mussten sich vormals die Menschen an die Architektur anpassen, treten jetzt Wände, Decken. Böden in Interaktion. Aus „hard“ wird „smart“.
Gesunde Innenarchitektur
Smart meint eine intelligente Raumumgebung mit sensorisch siebtem Sinn – mit Schnittstellen, die jeden Tag dazulernen. Die Menschen reden und fühlen mit Bauelementen und Produkten, die sich ihrerseits zu einer dynamischen und künstlich intelligenten Schutzhülle vernetzen, die weiß, wie es um einen bestellt ist. Ich spreche von einer gesunden Innenarchitektur, die lange vorher erkennt, was krank macht, Ängste auslöst, Stress verursacht.
Menschen sollen sich auf ihre Innenarchitektur und vorgeschlagene Lösungen verlassen können. Insofern ruft der nach Grundsätzen der Baukunst errichtete Raum nach einer Weiterentwicklung durch persönliche Interaktion in lernenden Zeitabschnitten.
Healing Interior – der gesunde Raum
Smart ist jedoch nicht nur ein technischer Begriff. Die „gesunde Wirkung“ des Raums erfordert eine Rücksichtnahme auf die Wechselwirkung jedes Einzelnen mit dem Raum. „Innen“ ist Inspiration, Haltung und persönlicher Ausdruck im zeitlichen Kontext. Diesen Prozess umschreiben Begriffe vom „universal design“ über „healing interior“ und „architectural care“ hin zum individualisierten „personalised interior“. Hier begleitet der Innenarchitekt den Bewohner, oft sogar über einen längeren Zeitraum.
Der „Raum“ – als Förderer frühkindlicher Entwicklung, als Vermittler von Lern- und Lehrfreude, sogar als Generator von Lust auf Leistung und Freude bei der Arbeit, als Garant für Würde im Alter und bei Krankheit – verlässt die alten Denkschemata einer ästhetischen und technischen Architektur des Inneren und erklimmt ein neues Qualitätslevel „individueller Wechselwirkung“ mit räumlicher Umgebung.
Weiterentwicklung des Inneren
Jeder Mensch generiert die Innenarchitektur, die er braucht. Solange jedoch die Mechanik und allgemeine Bautechnik den Raum beherrschten, waren Forderungen nach Flexibilität und Variabilität des Inneren schwer umzusetzen. Nun jedoch formen Digitalisierung und Vernetzung aus der klassischer Raumgestaltung Schnittstellen, die individuellem Veränderungs- und Gestaltungswillen zum Ausdruck verhelfen.
Auch generiert der Verbund von Hochschulen, Industrie und Anwendern zunehmend Initiativen, die inter- und transdisziplinär eine nachhaltige und individuell sinnvolle Weiterentwicklung des „Inneren“ fordern und fördern.
„Licht wirkt!“ oder „Bauen heißt Hören!“ sind aktuelle Beispiele, die Diversität und Kooperation verschiedener Experten in Einklang bringen und gegenseitiges Verständnis sowie Erkenntnisgewinn fördern. Lösungen von atmender Innenarchitektur, von mitfühlenden und mitdenkenden Raumteilen und Ausstattungen sind dringend erforderlich.
Einrichtung als therapeutische Unterstützung
Design hat immer Wirkung. Solange Menschen mit dem Raum interagieren, sich in ihm bewegen, mit ihm verhalten und ihn benutzen – solange also Menschen in Räumen leben – solange werden Symbiosen mit ihm gebildet und Geschichten erzählt: Menschen definieren sich zum großen Teil über „ihre“ Räume.
Gerade kranke Menschen erleben ihr Wohnumfeld samt Einrichtung als therapeutische Unterstützung: Healing Interior als Wohltat, höchst subjektiv, sehr persönlich.
Innenarchitektur zum Gradmesser für Lebensqualität
So ist Innenarchitektur zum Gradmesser für Lebensqualität geworden – auch und besonders in Medizin und Pflege. Mitunter scheint Raumgestaltung sich aus der Umklammerung allgemeiner Standards zu befreien. Bislang eher verpönt, da offenbar bar jeglicher Objektivität, galt das Persönliche als Synonym für „geschmäcklerisch“, privat eben, wenig verbindlich, kaum zu planen, zu verschieden.
Das ändert sich jetzt. Raum und Mensch leben eine Zeitlang miteinander, prägen einander, hinterlassen gegenseitig Spuren und entwickeln sich. Die moderne Innenarchitektur lässt individuellen Einfluss und Veränderung zu. „Innenarchitektur – weit über den Tag der Fertigstellung hinaus“ – hat zur Konsequenz: zeitlich unbegrenzte Verantwortung für dynamische, sich selbst entwickelnde Gestaltungsspielräume unterschiedlicher, aber glücklicher Menschen über viele Jahre hinweg.
Gibt es eine sinnstiftendere berufliche Ambition als Innenarchitekten auf gesellschaftlicher Augenhöhe mit Seelsorgern und Medizinern?
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Rudolf Schricker
Kolumnist
ist Professor an der Hochschule Coburg, Dipl.-Ing. Innenarchitekt BDIA, Planungsatelier Stuttgart und Coburg, did institut innenarchitektur+ design, Buchautor, Publizist, Gutachter.