Die Pandemie hat verschärft, was sich schon seit einiger Zeit abgezeichnet hat: Der stationäre Handel steht unter Druck und muss sich neu erfinden, um gegen den Onlinehandel zu bestehen und potenzielle Kunden anzulocken. Was das für die Gestaltung von Retail-Flächen bedeutet, darüber sind sich fast alle Experten aus der Architektur-, Marketing- und Designbranche einig, mit denen wir gesprochen haben.
Retailtrend: Mehr hilft mehr
Überspitzt könnte man sagen: Mehr hilft mehr. Wobei sich das „Mehr“ vor allem auf die Herstellung von Zusatzangeboten bezieht, die den Kunden emotional ansprechen und ihn im besten Fall an das Geschäft, den Hersteller oder die Marke binden. Denn gebaute Räume sind durch den gezielten Einsatz von Formen, Farben, Materialien und haptischen Oberflächen zur emotionalen Ansprache besonders gut geeignet – und schaffen den entscheidenden Unterschied zum Verkauf von Produkten im Internet.
„Der sinngebende Mehrwert, den der Kunde beim Betreten der Räumlichkeit erhält, wird darüber entscheiden, ob er wiederkommt oder eine andere Möglichkeit bevorzugt, seine Zeit zu verwenden“, dies bekräftigt Wolfgang Gruschwitz, der mit seinem Team aus Innenarchitekten, Produktdesignern, Schreinern, Projektmanagern, Ingenieuren und Experten für neue Medien Konzepte für Kunden wie Puma, Comma und den FC Bayern umsetzt.
Wie Architektur und Innenarchitektur zur Kommunikationsplattform werden und Konsum generieren können, zeigt Stilwerk.
Ein Hotel als Marketingtool
Längst mehr als ein Shopping Center für hochwertige Marken aus dem Interiorbereich, hat Stilwerk in Berlin-Charlottenburg unlängst eine neue Dependance eröffnet – und zwar in einer ehemaligen Hochgarage aus den 1930er-Jahren, die Nalbach + Nalbach Architekten umgebaut haben. Statt geschlossener Geschäfte auf verschiedenen Ebenen wie im alten Stilwerk in der Berliner Kantstraße sind die Geschäfte als offene Kojen gestaltet. So bleibt die beeindruckende Autogaragen-Architektur weitgehend erhalten, während sich der Kunde über eine geschwungene Auffahrt in Form einer Doppelhelix im Gebäude hin und her bewegen kann.
Retailtrend: Offenes Konzept
Das offene Konzept wirkt einladend und schafft es, „Schwellenängste“ abzubauen. Gestalterisches Highlight ist das Erdgeschoss, das multifunktional genutzt wird – für zeitlich begrenzte Brand-Präsentationen, Ausstellungen und Events. Im rückwärtigen Teil ist ein gastronomischer Bereich geplant, der durch eine Terrasse erweitert wird und zusätzliche Kunden anziehen soll. Das Entree dient gleichzeitig auch als Lobby für das neue Stilwerk-Hotel, das sich in einem Neubau gleich neben der ehemaligen Hochgarage befindet. Hier kommen ausschließlich Möbel, Leuchten und Accessoires der Stilwerk-Partner zum Einsatz.
Probewohnen macht Design erlebbar
Das ist zwar gestalterisch nicht immer überzeugend, aber ein echter Marketing-Coup, dessen sich die Hotelgäste wahrscheinlich nicht bewusst sind. Die Idee dahinter ist so einfach wie wohl kalkuliert: Hat man sich in den Thonet-Stuhl im Frühstücksraum verguckt, gibt man im Geschäft nebenan vielleicht eine Möbelbestellung auf. „Wir sind überzeugt, dass diese Art des Probewohnens besonders ist und Design so wirklich erlebbar wird“, sagt Jochen Streinz, Marketingleiter von Stilwerk. Er sieht in der Kombination von Hospitality und Retail „eine zukunftsgerichtete Weiterentwicklung der Marke“.
Retailtrend: Corporate Architecture
Das Ambiente von Läden wird immer wohnlicher, gerade in beratungsintensiven Branchen. Mit Farben, Materialien, behaglichen Möbeln und haptisch interessanten Oberflächen lassen sich besonders gut emotionale und sinnliche Erlebnisse schaffen.
„Gerade im Luxus-Segment setzt man immer mehr auf eine warme, intime Atmosphäre, die Vertrauen schafft und zum Verweilen einlädt“, erläutert Angela Kreutz, Partnerin bei Blocher Partners. Das renommierte Gestaltungsbüro hat den Schmuck- und Uhrenstore von Bucherer auf der Düsseldorfer Königsallee gestaltet. Das neu geschaffene Interiordesign soll den hohen Anspruch des Schweizer Juweliers widerspiegeln, so die Idee. Helle Farben und hochwertige Materialien wie Marmor, Messing, Terrazzo und Sichtbeton schaffen ein elegantes Ambiente – Corporate Architecture auf die subtile Art. Insbesondere der Loungebereich in der oberen Etage wurde sehr wohnlich geplant und gestaltet.
Hier dient ein behauener Marmorblock zur effektvollen Produktpräsentation, während die Kunden auf Designsesseln sitzend einen Drink von der Bar nehmen können. „Die anspruchsvolle Klientel legt in allen Lebensbereichen großen Wert auf Stil, Wertigkeit und exzellenten Service“, erklärt Kreutz das gestalterische Konzept. „Um das Vertrauen der Kunden zu gewinnen, muss sich das auch in der Atmosphäre und dem Design der Stores widerspiegeln.“
Retailtrend: Flexible Flächen
Dass Retail-Flächen zunehmend flexibel gestaltet werden, zeigt sich auch in Läden von Andreas Murkudis, der vor 20 Jahren den wohl bekanntesten Conceptstore Deutschlands eröffnete. Seit 2011 ist er in der Potsdamer Straße in Berlin-Schöneberg ansässig, wo er drei Läden betreibt. Während der große Showroom in der ehemaligen Druckerei des „Tagesspiegels“ gestalterisch weitgehend unverändert blieb, ist das Konzept der zwei anderen Läden flexibler angelegt. Das Möbelgeschäft in der Potsdamer Straße 98 fungiert beispielsweise als „Wohnung“, in der die Produkte nicht vereinzelt, sondern als großes Ganzes inszeniert werden.
An allen drei Orten finden regelmäßig verschiedene Brand-Präsentationen statt, mit denen er den Läden „immer wieder neue, inspirierende Gesichter“ verleihen will, so Andreas Murkudis. Er findet übrigens, dass Retail-Flächen zunehmend als Architekturikonen gestaltet sind und wünscht sich, dass das Produkt wieder mehr im Mittelpunkt steht.
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