Jetzt also ist Mikro dran. Auch Mikro wird von der Retroklatsche erlegt werden, wie schon so vieles zuvor: Was die Retroklatsche erwischt, wird nochmal aus der Versenkung hervorgeholt und auf den Sockel gestellt, unters Scheinwerferlicht gerückt, durch den güldenen Schimmer der Nostalgie aufgewärmt – aber dann schwappt die Retrowelle weiter, spült das nächste Etikett aus dem Atlantis von vorgestern an die Oberflächen von heute.
Mikro. Mikrofilme, Mikrocomputer und Mikroprozessoren
Jetzt also Mikro. Mikrofilme, Mikrocomputer und Mikroprozessoren waren mal technische Avantgarde, Vorboten eines Fortschritts, der sich längst selbst überholt hat. Es waren staunenswerte Verkleinerungen modernster Möglichkeiten: So viel Errungenschaften der Ingenieure auf so wenig Platz! Und wo das wohl hinführt, wenn das alles immer kleiner und kleiner wird?
Im Design haben die Theoretikerinnen und Theoretiker schon lange über das Verschwinden der Dinge gesprochen. Aber ihre Reden verhallten, wenn auch nicht ungehört, so doch ohne Resonanz. Gedanken über das Verschwinden der Dinge waren einfach nicht verständlich. Gab es nicht ganz im Gegenteil immer mehr Dinge, sogar zu viele Dinge, war nicht das Anwachsen der Müllberge aus weggeworfenen Dingen offensichtlich?
Das Verschwinden der Dinge
Das Verschwinden der Dinge wurde erst begreiflich, als die Geräte des Alltags plötzlich ohne die vertrauten handgreiflichen Steuerungen zu bedienen waren: Telefone ohne Tasten, Herde ohne Knöpfe, Beleuchtungen ohne Schalter, Türen ohne Griffe.
Die Ironie dieser Geschichte: Erst in dem Moment, als auch das Interface verschwand, verstanden die meisten Menschen, was die Designerinnen und Designer mit ihrer Rede vom Interface die ganze Zeit über gemeint hatten (allerdings ist »Schnittstelle der Mensch-Maschine-Interaktion« nicht wirklich eingängig).
Von den Dingen wird heute immer weniger gesprochen. Denn sie verschwinden auch begrifflich zunehmend hinter ihrem Nutzen, ihrer hilfreichen, freudespendenden oder unterhaltenden Anwendung. Die flache Glasscheibe in unser aller Hosentasche ist zugleich, was einmal Schreibmaschine, Fotokamera, Filmkamera, Telefon, Spielbrett, Lautsprecher, Radio, Tonbandgerät und Einkaufswagen waren. Deren materielle Erscheinungen sind verschwunden, aber ihre Anwendungen werden als visuelle Projektionen mit einem einzigen Fingerstreich herbei- und fortgewischt. Die vielen Alltagsdinge sind ersetzt durch wenige Fetische, denen wir verfallen sind und im permanenten Ritual als kultischer Handlung huldigen.
Micro Housing, die Miniaturisierung des privaten Lebensraums
Der nächste große Ort, der durch das Verschwinden der Dinge transformiert wird, ist die Wohnung. Micro Housing, die Miniaturisierung des privaten Lebensraums, beschreibt nur die letzte Schwundstufe einer überkommenen Vorstellung von Privatsphäre. Die Räume werden nicht verschwinden. Aber ihre Oberflächen werden in einer Weise transformiert werden, deren neue Eigenheiten wir erst dann begreifen können, wenn die Transformation abgeschlossen und unumkehrbar sein wird. Wie es beim Interface war.
Mikrowohnung: intelligente Wohnraum auf geschrumpfter Fläche
Im Moment spricht alles dafür, dass dieser neue Zustand auch durch die Auflösung der Privatsphäre gekennzeichnet sein wird. Die Mikrowohnung, der technologisch aufgerüstete, sozusagen intelligente Wohnraum auf geschrumpfter Fläche scheint das Gebot der Stunde zu sein, angesichts der dramatischen Situation auf den Immobilienmärkten in vielen Städten. Und doch spricht vieles dafür, dass es sich bei dieser Vokabel um das rhetorische trojanische Pferd für den Einzug neuer Technologien mit disruptiver Energie handelt. Danach werden wir unsere Wohnungen nicht mehr wiedererkennen.
Kein Grund für Retro-Sentimentalität! Intelligent wäre es nur, wenn wir bis dahin aus dem Verschwinden der Dinge und dem Verschwinden der Begriffe noch rechtzeitig so viel gelernt haben, dass am Ende nicht auch unser Vertrauen in ein gedeihliches Zusammenleben der Gesellschaft verschwunden sein wird.
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Kolumnist René Spitz lehrt an der RFH Köln Designwissenschaft. Seit 20 Jahren berichtet er als Designkritiker des WDR. Sein Interesse gilt der gesellschaftlichen Verantwortung der Gestalter.