Eine Kollegin hat mir vor Kurzem ganz einfach erklärt: Das mit der Nachhaltigkeit ist so wie mit der Bibel. Die Wirkkraft der Bibel gründet sich auf die Überlieferung von Gleichnissen und Erzählungen, aber auch auf die Verheißung der Weltrettung durch das Gottesreich.
Die meisten Menschen sind heute nicht mehr bibelfest, viele von uns haben trotzdem die Zehn Gebote in ihrer Jugend auswendig gelernt. Sie helfen uns, ein anständiges, auf ethischen Grundpfeilern aufgebautes Leben zu führen. Brauchen wir also nicht auch so etwas wie die Zehn Gebote für nachhaltige Architektur, als Wegweiser für unser Planen, als Handlungsanweisung? Vorschläge dafür gibt es einige.
Vorbild aus dem Film
Durchaus vergleichbar mit unseren heutigen Bestrebungen nach Suffizienz und einfachem Bauen ist die Dogma-Bewegung. 1995 postulierte eine Gruppe von dänischen Regisseuren mit „Dogma95 – Befreiung durch Verzicht“ zehn Regeln zur Rettung des Films, ein Bollwerk gegen die Tendenzen des dekadenten, individualisierten Kinos, der Illusionen und unbegrenzten Möglichkeiten.
Das sogenannte Keuschheitsgelübde schrieb vor, Filme ohne Tricks, Effekte und Filter an authentischen Orten mit aktuellen Handlungen herzustellen. Die Einfachheit sollte „Figuren und Szenen die Wahrheit abringen“. Die Bewegung hatte mit ihrer neuen Ästhetik nachhaltige Wirkung für die Filmschaffenden, obwohl sie nur einige Jahre in ihrer Radikalität praktiziert wurde.
Vorbild aus der Politik
Wegweisend sind auch die „UN Sustainable Development Goals“ (SDG), die „Agenda 2030“ der Vereinten Nationen. Sie soll für ein langfristiges Umdenken der Weltgemeinschaft und für nachhaltige Entwicklung sorgen.
Ihre 17 Ziele gliedern sich in 169 Unterziele und stellen somit komplexe Leitplanken dar. Vor allem in unseren nördlichen Nachbarländern orientieren sich viele Unternehmen und Organisationen für ihre eigenen Nachhaltigkeitsstrategien daran. Die Kunstakademie in Kopenhagen hat einen Leitfaden herausgegeben, der zeigt, wie nachhaltige Architektur direkt und indirekt zur Erreichung der 17 SDGs beitragen kann. Er zeigt beispielsweise auf, dass gut gestaltete Sozialwohnungen Armut begrenzen und dass die Wiederverwendung von Baumaterialien zum verantwortungsvollen Konsum beiträgt.
Vorbild aus der Architekturpraxis
Das Positionspapier des Berufsverbandes Bund Deutscher Architekten e.V., „Das Haus der Erde“, fordert wiederum in zehn Postulaten überraschend radikal, dass wir Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt übernehmen. Klare Botschaften sind: Mischt euch politisch ein, entwerft ein neues Zukunftsbild und baut weniger ‚neu‘. Reduktion ist keine modische Attitüde, sondern Überlebensnotwendigkeit.
Wer Unterstützung braucht für das Gespräch mit den Bauherren, dem stellt die DGNB e.V. mit der Deklaration der „Phase Nachhaltigkeit“ einen Gesprächsleitfaden bereit. Die sechs Leitthemen – von Klimaschutz bis Unternehmensbaukultur – stehen auf einem Blatt. Sie sollen ermutigen, ein Gespräch über Nachhaltigkeit als Projektziel zu führen und vielleicht sogar eine Vereinbarung zu treffen. An der Initiative können auch Nichtmitglieder kostenlos teilnehmen.
Positionen von Diez bis DAZ
Die Liste der Denkanstöße geht weiter. „Architects for future“ ist eine erfolgreich in den Bundestag eingebrachte Petition. Sie stellt Forderungen an die Baubranche: Entwerft für eine offene Gesellschaft, erhaltet und schafft biodiversen Lebensraum.
Mit der Ausstellung und Publikation „Sorge um den Bestand“ des Deutschen Architektur Zentrums DAZ formulieren Architekturschaffende zehn Thesen zum Umgang mit Bausubstanz.
Und Stefan Diez formuliert mit den „Circular design guidelines“ Regeln für die Kreislaufwirtschaft und sendet eine klare Botschaft: mutig für eine Einzelperson in der Abwägung der eigenen Geschäftsinteressen.
Nachhaltige Architektur selber leben
Noch hoffen viele, Wissenschaft und Technik werden unser zerstörerisches Handeln schon ungeschehen machen. In Zeiten der Unsicherheit, in der wir viele Widersprüche aushalten müssen, können Leitlinien als Wegweiser dienen. Sie können Halt und Orientierung geben, auch wenn sie keine einfache Lösung für die Weltrettung liefern – und zwar ohne dogmatisch zu sein, da sich vermeintliche Gewissheiten immer wieder ändern.
In meinen persönlichen Zehn Geboten der Nachhaltigkeit ist ein vielversprechender Weg „Befreiung durch Verzicht“. Doch jeder kann seine Prioritäten selbst ordnen. Am Ende müssen wir gemeinschaftlich die Verantwortung für die Risiken übernehmen, die in der spekulativen Vorstellung der kreativen Planung stecken.
Amandus Samsøe Sattler
Kolumnist
Gründungspartner des Architekturbüros Allmann Sattler Wappner, München. Präsident DGNB, Mitglied des Gestaltungsbeirats der Städte Wiesbaden und Oldenburg; Leitung internationaler Workshops, eigenes künstlerisches Werk in Fotografie.
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