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Fels in der Brandung

60 Jahre Innenarchitektur
Fels in der Brandung

Seit den 1950er-Jahren unterliegt das Berufsbild und das Selbstverständnis der Innenarchitekten großen Schwankungen. Zunächst auf Augenhöhe mit den Architekten, entwickelte die Zunft in der Folge selbstkritisches Berufsbewusstsein. Heute ist das Lavieren zwischen Architektur und Design überwunden. Rudolf Schricker, Vizepräsident des BDIA, über das neue Selbstbewusstsein einer kreativen Berufung.

Text: Rudolf Schricker

Ja, es ist ein Privileg, Innenarchitekt/in zu sein. Und wie bei allen gesetzlich geschützten Berufen, kommt auch bei der Innenarchitektur gesteigertes gesellschaftliches Interesse um Qualität, Werte und Relevanz zum Ausdruck. Analog den Ärzten und Anwälten stehen Architekten und Innenarchitekten mit den in den 1950er-Jahren ins Leben gerufenen Berufsgesetzen den zahlreichen gesellschaftlichen Veränderungen seither wie Felsen in der Brandung und versuchen Orientierung zu geben in einer immer variantenreicheren, aber richtungsloseren Welt.
Den Begriff Innenarchitektur mit Inhalten zu füllen und Existenzgrundlagen für sinnvolles Berufsleben zu legen, wird nie endende Ambition im Kampf gegen Beliebigkeit bleiben. Wie wir mit Räumen umgehen, zeigt, wie wir mit Menschen umgehen – und ist damit stets Spiegel der Gesellschaft; und gesellschaftliche Zeitmarken korrelieren mit Bedeutungsjahresringen gestalterischer Verantwortung.
Sechs Häutungen
Sechs Dekaden erzählen von ebenso vielen Häutungen: Innenarchitektur in den 1950ern ist geprägt vom Wiederaufbau, von neuer Gesellschaftsordnung, getragen von Zuversicht und Zukunftsgläubigkeit. Arbeit, Arbeit, Arbeit … das “Innere” konzentriert sich auf Zweckmöbel und notwendige Ausstattung zum Überleben; und Architektur sichert erste zaghafte Privatheit im massiv geförderten, jedoch uniformen Wohnungsbau. Hand in Hand werden die immensen sozialen Herausforderungen angepackt. Quantität vor Qualität. Es ist die Zeit der Neugründungen: 1952 wird der Bund Deutscher Innenarchitekten gegründet, lange bevor in den Folgejahren durch Parlamente verschiedene Architektengesetzgebungen auf den Weg gebracht werden. Architektur und Innenarchitektur, Seite an Seite und auf Augenhöhe: Nach sechzig Jahren ein beinahe schon verblassendes, doch zukunftsträchtiges Idealbild.
Die 1960er bringen Leben und frischen mutigen Wind in die bislang lichtscheuen Räume. Farbenfroh, phantasievoll, auf jeden Fall ausdrucksstark versuchen Menschen Lebensfreude in uniforme und monotone Architekturkonzepte einzuhauchen. Der Schritt vom bildenden zum anwendenden Künstler ist konsequent. Für Innenarchitektur sind Frauenemanzipation und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der Studentenrevolte 1968 wesentlich, wird doch damit indirekt jedem Gestalter auch soziale Verantwortung in die Hände gelegt.
GEstaltung wird akademisch
Um den wohltuenden Kurzschluss zur Architektur nicht zu verlieren, wagen Innenarchitekten in den 1970ern den Gang auf das Kompetenzfeld “Ingenieur”, und so entstehen ebenso prägende wie zunächst scheinbar paradoxe Berufsbilder wie “Dipl.-Ing. Innenarchitekt” nach einem Diplomstudium an einer Kunstakademie.
Ikonen zeitgenössischer Innenarchitektur, neben anderen Prof. Herta Maria Witzemann und Prof. Herbert Hirche an der Stuttgarter Kunstakademie und Prof. Ellen Birkelbach an der Hochschule in Düsseldorf sowie Prof. Felix Nitsch in Detmold versuchen auf dem gerade ins Leben gerufenen Begriff des Möbeldesign Tradition und Vision moderner Gestaltungskultur zu vereinen und anzuknüpfen an den Bauhaus-Gedanken Gropius‘ oder die seinerzeit von Max Bill aufgebaute und dann durch die Politik auch rasch wieder geschlossene HfG in Ulm mit der Gründung modernen Industriedesigns. Diese kurze Epoche selbstbewusster Innenarchitekturausbildung trägt Früchte und nährt bis heute so manche authentische Lehrhaltung an Hochschulen, nicht nur in Deutschland.
In der Nachkriegszeit zunächst neu und eher mit Kunsthandwerk und Tischler in Verbindung gebracht, bestimmen in der Folgezeit zunehmend Akademisierung und Fokussierung auf “Diplomingenieur” die inhaltliche Diskussion. Wer Innenarchitekt/in werden will, muss seither studieren.
Die 1980er tragen das Etikett “Akademisierung der Gestaltung”. Praxisorientiertes Studium in Architektur, Innenarchitektur und Design aller Orten und gleichermaßen. Gestaltung als technische Herausforderung vor dem Hintergrund von Ölkrisen, Friedensinitiativen, Ökologie. Erste “Sinn-Krisen” befallen das kreative Lager und Zweifel darüber, ob alles technisch Machbare auch wirklich sinnvoll ist. Innenarchitektur fühlt sich etabliert und konzentriert auf die alte Bundesrepublik. In den 1980er-Jahren wird Innenarchitektur gleichgesetzt mit Ingenieurkunst. Der Titel erweist sich als Kitt zwischen den Disziplinen. In der Berufspraxis fortan Voraussetzung für Kammereintrag und Berufsexistenz, aber auch Synonym für Differenzierung. Obwohl Designer kein geschützter Beruf ist, notierten zahlreiche Innenarchitekten/innen auf ihren Visitenkarten mit beiden Berufsbezeichnungen, gerade so, als wollten sie sich einerseits von der weit größeren Gruppe der “Nur-Architekten” wie auch der nicht minder großen Gruppe der “Nur-Designer” abheben. Nicht wenige, die unter dem erdrückenden Schutzschirm der Architektur hervorgetreten, mit einem Mal in Partnerschaft mit Architektur und Design eigenes Profil und Alleinstellungsmerkmale entwickeln können. Innenarchitektur ist teamfähig und integrativ.
Zwischen den Disziplinen
Dreißig Jahre nach Etablierung ist Innenarchitektur immer noch auf diese kleine Insel Westdeutschland konzentriert, überschaubar, verlässlich … man hatte sich arrangiert. Erste Wirtschaftskrisen und politische Veränderungen, insbesondere der Wegfall des Ost-West-Konflikts, Wiedervereinigung und die anschließende Europäische Konsolidierung sprengen mit Beginn der 1990er im wahren Sinne des Wortes alle Grenzen, führen zu Neustrukturierung und Neubewertung auf nahezu allen Ebenen. Die Diskussion um das Selbstverständnis von Architektur und Innenarchitektur bekommt neue Impulse von allen Seiten; zumal in der ehemaligen DDR das Wort Innenarchitektur aus dem sozialistischen Vokabular gestrichen war und die vormals “Form- und Raumgestalter” scharenweise in die Architektenkammern der neuen Bundesländer drängen, um sich den Eintrag als Architekten zu sichern. Für gesamtdeutsche Innenarchitekten/innen eher Anlass über Begrenzungen und Grenzenlosigkeit neu nachzudenken. Mit einem Mal steht Innenraumgestaltung in Deutschland im Kontext europäischer Raumgestaltungskultur. In den Folgejahren resultieren aus wirtschaftlicher Globalisierung und ökologischen Zwängen neue Freiräume durch zunehmende Digitalisierung. Monitore zeichnen seitdem schöne Bilder einer möglichen Welt, virtuell zwar, aber sehr eindrucksvoll und interaktiv, in der jeder seine Individualität ausleben kann.
Das “Soziale” wie das “Individuelle” zeichnen sich bereits deutlich am Gestaltungshimmel zum Jahrtausendwechsel ab und künden von “Wir-kümmern-uns”-Mentalität. “Innenarchitektur als Therapie” deckt schonungslos ästhetische Elendsquartiere und soziale Brennpunkte in diesem “reichen” Land auf und möchte all den Menschen helfen, die immer älter, immer ungesünder und immer einsamer leben. Fast scheint es, als habe Innenarchitektur ihre eigentliche Aufgabe im 21. Jahrhundert entdeckt: Menschen, wollen sie leben, brauchen Frei-Räume. Diese sinnvoll, sozialverträglich und wirtschaftlich zu erforschen, zu konzipieren, zu planen und zu realisieren, und sie auch in Zukunft veränderbar verwenden zu können, – also: Begleiter und Betreuer von Menschen in Räumen – auch das ist Aufgabe von Innenarchitekten/innen.
Hypothetisch zu fragen, wie es weitergegangen wäre, hätten Europapolitiker nicht den sogenannten Bologna-Prozess rechtzeitig zur Jahrtausendwende initiiert. Auch die Studiengänge Innenarchitektur mussten sich schweren Herzens vom Dipl.-Ing. trennen und sich mit den neuen Abschlüssen Bachelor und Master auseinandersetzen. Der Umstellungsprozess im Studium erfolgt nur unzureichend in Abstimmung mit den Verantwortlichen in Beruf, Wirtschaft und Politik. Ratlosigkeit und Irritationen auf allen Seiten sind bislang die Folge. Zahllos sind Varianten der inhaltlichen Schwerpunkte und Neuausrichtungen. Die Studiengänge der Innenarchitektur sind von Bildungseinrichtungen mit starkem Praxisbezug zu Berufsausbildungsstätten mit ambitionierten Forschungsansprüchen geworden. Schade nur, dass diese schönen neuen Berufsaussichten in den Köpfen der Absolventen immer schwerer erfolgreich Resonanz in der Realität erfahren und die Ernüchterung bei angehenden Innenarchitekten/innen ebenso groß ist wie bei etablierten und verzweifelt um Nachwuchs bemühten Innenarchitekten/innen mit langjähriger Erfahrung als Büroinhaber.
Innen hat Zukunft
Sämtliche Megatrends weisen in eine Richtung: Innen hat Zukunft. Das Meiste ist gebaut; in Zukunft wird vermehrt modernisiert, renoviert und alte Gemäuer mit neuen Inhalten konzipiert. Menschen leben länger, plagen sich mit immer mehr gesundheitlichen Beeinträchtigungen, werden selbstbewusster und anspruchsvoller. Es geht immer weniger um Lösung von Architekturproblemen, vielmehr werden Spezialisten gesucht, die nicht nur Ästhetik und Technik beherrschen, gleichsam Menschenkenner sind und um die Heilkraft von Innenarchitektur wissen. Innenarchitektur wird sich rentieren. Und es lohnt, Innenarchitektur zu studieren. Die Zeit läuft für die Innenarchitektur. Natürlich wird es auch in Zukunft ein Privileg sein, sich Innenarchitekt/in nennen zu dürfen, zumindest solange es Kammern und Architektengesetze gibt. Manche haben Sorge, dass die Schar derer, die weniger auf formale und quantitative Vorgaben achten und Qualität im Raum im Sinne von “Wertschöpfung durch Wertschätzung” definieren, wachsen könnte. Und es bleibt zu befürchten, dass sich in absehbarer Zeit ein fataler Abgrenzungskampf der Innenarchitekten/innen nicht nur gegenüber Architekten, gleichsam auch gegen alle Nicht-Innenarchitekten/innen entfachen könnte. Innenarchitektur steht stets zwischen Architektur und Design; sie sollte sich dazwischen nicht aufreiben, sondern mit beiden arrangieren. Innenarchitektur per se ist eben nicht elitär, vielmehr sozial; nicht abgrenzend, eher integrativ und human. Ähnlich den differenzierten, jedoch geschützten Berufsbezeichnungen in den Heilberufen der Medizin (Arzt, Therapeut u. a.) wird es erforderlich sein, geschützte Berufsbezeichnungen in der Gestaltung zu definieren.
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