Es gibt zwei Arten von Designbüros, mindestens. Die einen gehen routiniert eine neue Aufgabe an, analysieren, was es auf dem Markt bereits gibt und gelangen rasch zu einer formalen Lösung, die bekannte Features nutzt und – falls die Branche es hergibt – technische Neuerungen mit einbezieht.
Das Berliner Studio 7.5 gehört zu einer etwas anderen Art von Entwurfsbüro. Bei ihnen geht es weniger um Formgebung als um Formfindung. Für sie spielen im Prozess der Entstehung eines Objektes hübsche Zeichnungen und Renderings keine Rolle, wohl aber belastbare Prototypen und produktionsrelevante Daten. Das Studio 7.5 betreiben heute Burkhard Schmitz, Carola Zwick und ihr Bruder Roland Zwick. 2013 verstarb Mitgründerin Claudia Plikat.
Bereits zehn Jahre zuvor erzählte sie in einem Interview, mit ihren Kollegen arbeite sie an einer „sich selbst einstellenden Synchron-Mechanik“. Man setzt sich hin und werde automatisch „eingewogen“. Der Stuhl passt sich dem Individuum von selbst an.
15 Jahre später kommt mit ‚Cosm‘ der Bürostuhl auf den Markt, der auf dieser Technik basiert, die Hersteller Herman Miller „Auto Harmonic Tilt“ nennt. Erdacht, forciert und erprobt haben diese neuartige Bürostuhlbasis die Gestalter des Studios 7.5. Sie mögen das Wort Entwerfen, das aus ihrer Sicht etwas vom Vorauswerfen hat, in eine Gegend, in eine Zukunft, wo noch keine Gewissheiten herrsche, wo zuvor noch niemand war. Diesem „Vorwurf“ nähert man sich langsam, er trägt einen durch den oft langwierigen Gestaltungprozess.
Auto Harmonic Tilt
Carola Zwick zitiert den Berliner Designer Helmut Staubach (1949–2016), der Straßenbahnen und Büromöbel gestaltete. Staubach sagte, so Zwick, dass „unsere Profession als Designer nicht wissensbasiert ist, sondern erfahrungsbasiert.“ Seit 25 Jahren besteht 7.5 und begreift sich noch immer als ein lernendes, explorierendes, experimentierendes Studio.
Anders als in der transatlantischen Großwetterlage der Politik, blüht die Zusammenarbeit der Berliner Entwerfer mit dem Traditionsunternehmen Herman Miller und steigert sich in der Qualität von Projekt zu Projekt. Es begann 2003 mit dem ökologischen Vorzeigeobjekt ‚Mirra‘. Die innovative Lehne des Stuhls ermöglicht größere Beweglichkeit, was durch eine unterschiedlich dichte Perforierung der Kunststofflehne erreicht wurde. „Every molecule counts“, sagt Burkhard Schmitz, der wie alle drei Chefs von 7.5 neue Projekte gern in Online-Videos und auf Englisch vorstellt.
Längst nicht mehr zielen Sitzmaschinen darauf ab, die Sitzenden in einer einzigen vermeintlich idealen Haltung zu fixieren. Im Gegenteil: Was das Sitzen angeht, gilt neben dem Aufstehen, dem Arbeiten im Stehen, „der häufige Wechsel der Sitzpositionen“ als nützlich und gesundheitsfördernd, wie Roland Zwick betont.
Mit ‚Setu‘, 2009 vorgestellt, entwickelten sie eine leichte Konstruktion, mit skelettartigen und zugleich flexiblen seitlichen Tragstrukturen aus zwei Polypropylen-Materialien, die eine kontinuierliche Neigebewegung ohne jede Mechanik ermöglicht, auch dies ein anspruchsvolles Projekt der Formfindung.
Mit ‚Mirra 2‘ optimierten sie 2016 ihren ersten Herman-Miller-Stuhl und zeigten, dass auch ein Büromöbel-Modell in einer nächsten Generation verändert weiterleben kann, ähnlich wie Baureihen in der deutschen Autoindustrie bewusst an Vorläufer anknüpfen, um erreichte Qualitäten evolutionär zu aktualisieren.
Kontrolle über die Details
Was also konnte man nach drei erfolgreichen Büromöbeln – allein der erste ‚Mirra‘ verkaufte sich zwischen Markteinführung und Ablösung durch den Nachfolger 1,5 Millionen Mal – Neues finden und erfinden?
Design beginne manchmal mit einer Todsünde, behauptet Burkhard Schmitz. In diesem Fall war es Roland Zwick, der die hintere Stütze von ‚Mirra‘ mit den seitlichen Trägern von ‚Setu‘ zusammenschraubte. Aus dem Zwitterwesen schufen die Designer nach und nach eine harmonische Synthese aus Rahmen und Rücken in einem Bauteil.
Nur junge Ingenieure bei Herman Miller halten Designer noch für Leute, die Zeichnungen auf Servietten abliefern. Tatsächlich ist Studio 7.5 eine große Werkstatt, ein Entwicklungslabor, das Funktionsprototypen und visuelle Prototypen parallel entwickelt.
Und so gelingt es immer besser, durch präzise Entwicklungsarbeit, die beispielsweise in Daten für den Modellbau mündet, die Kontrolle über jene Details zu behalten, die bekanntlich das Produkt ausmachen, wie schon Charles Eames wusste.
So ließen die Designer das leichte Rücken-Rahmen-Stück von ‚Cosm‘ im Entwurfsprozess komplett aus Polyamid im Sinterverfahren 3Ddrucken, um den Entwurf zu perfektionieren.
Deeskalationsstrategie
Zum Erfahrungswissen der Berliner gehört, wie man Membran und Rahmen so verbindet, dass eine gleichmäßige punktelastische Spannung erhalten bleibt. Bei ‚Cosm‘ ist sichtbar wie Membrane und Zähne des Rahmens ineinandergreifen, ähnlich einem Reißverschluss oder einer Verspannung eines Tennisschlägers.
Zugleich bietet die Konstruktion besonderen Schutz der Kanten. Neuartige Lehnen mit fließender Form unterstützen den Ellbogen, etwa bei der Benutzung von Smartphone oder Laptop. Auch hier werden unterschiedliche Haltungen ermöglicht, ganz ohne bewegliche Teile oder Stellschrauben. Diese harmonisch geformten Lehnen haben das Zeug dazu, traditionelle, verstellbare Armlehnen (die es für ‚Cosm‘ auch gibt) überflüssig zu machen.
Um zu „deeskalieren“ wie Carola Zwick sagt, nämlich die skulpturale Form zu betonen, zugleich aber das Maschinenhafte in den Hintergrund treten zu lassen, gibt es ‚Cosm‘ in abgestimmter durchgehender Farbigkeit von Lacken und Kunststoffen, was die biomorphe Struktur zusätzlich betont.
Diesmal war es Herman Miller, die Abteilung für Produktqualität, die den Pigmenthersteller kontaktierte, um einheitliche Farben von Lack- und Kunststoffoberflächen zu schaffen. Es muss nicht immer das klassische Bürograu sein, „Nightfall“, „Glacier“, „Canyon“ und „Studio White“ ergänzen „Graphite“ oder „Carbon“. Fast alles kann ‚Cosm‘ von selbst, nur einen der drei Typen und die Farbe sollte man selbst wählen.
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Studio 7.5
Das Designteam um Burkhard Schmitz, Roland und Carola Zwick sieht sich oft in der Rolle von Anthropologen. Ihre Arbeit basiert auf der genauen Beobachtung der menschgemachten Umwelt und Verhaltensmuster.