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Diskussionskultur: Recht auf Unrecht

Die Radikalisierung in der Diskussionskultur
Recht auf Unrecht

Recht auf Unrecht
Mitdenken braucht Aufmerksamkeit – auf beiden Seiten. Illustration: Curva Bezier – stock.adobe.com
Logisches Argumentieren und schlüssiges Nachweisen müssen gelernt werden. Dafür nehmen sich immer weniger Menschen Zeit. Ein Plädoyer gegen pauschales Schwarz-Weiß-Denken und die Radikalisierung in der Diskussionskultur.

Autor: René Spitz

Die folgenden Zeilen sind persönlich. Sie sind nicht zu Ihrer Unterhaltung gedacht. Seit einigen Jahren beobachte ich ein ausuferndes Phänomen: Menschen halten sich nicht mehr an Regeln. Sie übertreten Grenzen. Sie tun es nicht aus Nachlässigkeit, sondern mit Absicht. Es wird nicht im Eifer des Wortgefechts beleidigt, sondern erstens um im konkreten Einzelfall zu verletzen und zweitens um ganz allgemein das Prinzip der Höflichkeit mit Füßen zu treten. Trump ist der neue Knigge. Ich beobachte eine Radikalisierung in der Diskussionskultur.

Gefühlte Wahrheit

Damit geht einher, dass die Welt radikal vereinfachend in zwei Lager geteilt wird: Die und wir. Hier Veganer, dort Fleischesser; Klimaretter und SUV-Fahrer; Gendernde und Altsprachler. Das Konzept von Identität erzeugt Abgrenzung, Ausgrenzung und Abschottung. Das Gemeinsame tritt völlig in den Hintergrund. Den anderen ist man feindlich gesonnen, das sind keine Menschen, sondern Schweine, Hunde, Reptilien.

Zugleich wird auch das übergeordnete Prinzip der Wahrhaftigkeit für ungültig erklärt. Es gilt nicht mehr als Maßstab für jegliche Äußerung, dass sie wahr sein soll: Dass das Wort mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Der Sinn des Begriffs Wahrheit ist abhandengekommen. Wo es angeblich überhaupt keine objektive Wirklichkeit gibt, ist die Rede von der „gefühlten Wahrheit“ auch kein absurder Witz, sondern Freibrief für Lug und Trug. Wenn Wahrheit nicht mehr überprüft werden muss, weil sie als persönliche Empfindung deklariert wird, dann ist es auch überflüssig, Energie in die allgemeine Wahrheitsfindung zu investieren.

Mitdenken braucht Aufmerksamkeit

Nun bietet seit dem Renaissance-Humanismus die auf Vernunft und Evidenz beruhende Wissenschaft eine große Hilfe, um Konflikte konstruktiv zu bewältigen. Wir müssen niemanden auf dem Scheiterhaufen verbrennen, weil wir ihn nicht verstehen und weil unser Unverständnis die Quelle unserer Angst ist. Aber leider erfordern Rationalität und wissenschaftliches Arbeiten viel Zeit und Mühe. Logisches Argumentieren und schlüssiges Nachweisen müssen gelernt werden. Zugleich muss das Publikum die Gedankengänge auch verstehen. Mitdenken braucht Aufmerksamkeit.

Dafür nehmen sich immer weniger Menschen die notwendige Zeit. Sie stehen auf dem Standpunkt, dass sie keine Zeit mehr haben. Extinction Rebellion sieht sich als letzte Generation auf Erden. Der Gender Pay Gap existiert schon zu lange. Der koloniale Westen hat den globalen Süden viel zu lange ausgebeutet. Die Einstellung, dass sich jetzt, in diesem Moment, Wesentliches ändern muss, weil es sonst zu spät ist, dominiert das Denken und Handeln.

Gewaltfreie Kommunikation

Daraus wird die moralische Legitimität abgeleitet, dass der eigene Anspruch sofort durchgesetzt werden muss – über bestehende Grenzen. Je nach Einzelfall kann es sich um Gesetze, Kultur oder Anstand handeln, die für untauglich erklärt und deshalb mit Absicht übertreten, beschädigt oder verletzt werden. Der Druck der zeitlichen Dringlichkeit führt außerdem dazu, dass der eigene Anspruch absolut gesehen wird. Die mäßigende Relativierung durch den Kontext der Situation wird bewusst ignoriert. Eine Technik wie die gewaltfreie Kommunikation könnte an dieser Stelle helfen – allein: um sie zu erlernen und anzuwenden, braucht es Zeit. Vielleicht hilft der schwindenden Diskussionskultur auch nur ein Gang ins Museum?

Diskussionskultur von morgen

Im neuen Erweiterungsbau des Museums Quadrat in Bottrop von Gigon Guyer Architekten steht folgendes Zitat von Josef Albers. Es formuliert die Grundlage der Moderne, die versuchte, aus dem Wahnsinn von Erstem und Zweitem Weltkrieg eine humane Welt zu ermöglichen: „Wer besser sieht, schärfer unterscheidet, die Relativität der Fakten erkennt und weiß, dass es nie nur eine einzige Lösung für visuelle Formulierungen gibt, der wird dann wohl auch seine Meinung über andere Formulierungen ändern; vor allem wird er sowohl genauer als auch toleranter werden.“

Vielleicht lassen Sie sich auf diesen Gedanken ein und erinnern sich daran beim nächsten Mal, wenn Ihnen der Kragen platzt und Sie sich einen Eimer mit Kartoffelbrei wünschen, um ihn über Ihrem Gegenüber oder einem Kunstwerk auszuschütten.


René Spitz

Prof. Dr. René Spitz lehrt an der RFH Köln Designwissenschaft. Seit 20 Jahren berichtet er als Designkritiker des WDR. Sein Interesse gilt der gesellschaftlichen Verantwortung der Gestalter.

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