Weil die Bewegungen bei der Büroarbeit auf zweidimensionale Desktops und Touchdisplays reduziert sind, wird aus der hilfreichen ergonomischen Entlastung schnell eine komatöse Unterforderung. Statistiken machen deutlich: Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems zeichnen für knapp 22 Prozent aller Ausfalltage verantwortlich.
Drei von vier Versicherten hatten innerhalb eines Jahres die Volkskrankheit „Rückenschmerzen“ (vgl. DAK Gesundheitsreport 2018), und das, obwohl seit vielen Jahren im Rahmen des „Betrieblichen Gesundheitsmanagements“ vermehrt in Maßnahmen zur Rückengesundheit investiert wird.
Aber nicht nur „Rücken“, sondern viele weitere Störungen der Gesundheit werden inzwischen mit besonders bewegungs- armen Lebens- und Arbeitsstilen in Verbindung gebracht: Ob Herz-Kreislaufsystem, positive Gefühle, Lungenfunktion, Stressresilienz, Immun- oder Verdauungssystem – der komplette Organismus inklusive Psyche ist auf ausreichende Bewegung angewiesen.
Das aktuelle Factsheet der WHO geht davon aus, dass sich weltweit ein Viertel der Erwachsenen und sogar 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen deutlich zu wenig bewegen!
Wege aus der Sackgasse
Die bisherigen Strategien im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements müssen als unzulänglich betrachtet werden: Ganz offensichtlich reicht es nicht, den Bewegungsmangel während der Arbeit durch Zusatzangebote zu kompensieren. Stattdessen gilt es, wieder mehr Bewegungen in die Arbeitsabläufe selbst zu integrieren.
Das allerdings erfordert ein komplettes Umdenken: Im Verständnis der Industrialisierung mit maximierter Arbeitsteiligkeit und Lean-Management wurden Bewegungen als unproduktiv aus den Prozes- sen eliminiert. Und das Büro ist seit Jahrzehnten auf Cockpit-Organisation, Greifraumorientierung und Eliminierung von Wegezeiten fokussiert.
Analog ist die Sitzergonomie auf Haltungsoptimierung ausgelegt, die mit zahlreichen Einstelloptionen erreicht werden soll. Das Credo: den Körper wie mit einem maßgeschneiderten Korsett zu entlasten und vor dem Bildschirm zu fixieren.
Damit wird die haltungsorientierte Bürostuhlergonomie zum Teil des Problems: Sie schwächt die Muskulatur, sie behindert Haltungswechsel und sie reduziert die mentale Performance, weil auch dem Gehirn wesentliche Impulse fehlen, die nur durch Bewegung gesetzt werden.
Es gibt kein richtig oder falsch
Gesundheitswissenschaftler stellen Aktivierung und natürliche Stimulation in den Mittelpunkt einer neuen Sitzergonomie. Jede Haltung, die der Körper schmerzfrei einnehmen, und jede Bewegung, die er ausführen kann, wird als richtig und wichtig erachtet: vom aufrechten Sitzen über das Quersitzen bis zum Lümmeln.
Je häufiger die Haltungswechsel und je vielfältiger und natürlicher die Bewegungen, desto besser werden auch im Sitzen Muskeln, Gelenke und geistige Leistungsfähigkeit aktiviert.
Die bisherigen Konzepte für „2D-dynamisches Sitzen“ sind zwar viel besser als starres Sitzen, aber wesentliche Bewegungskompetenzen und die entsprechenden Muskelreize bleiben außen vor. Da der menschliche Organismus für das Laufen optimiert ist, sind es vor allem die dreidimensionalen Bewegungen der Hüfte, die den größten Effekt für einen gesunden Stoffwechsel haben. Es geht also in gewisser Weise darum, dem Sitzen das „Laufen“ beizubringen.
Das „Zentrum für Gesundheit durch Sport und Bewegung“ der Deutschen Sporthochschule Köln hat nicht nur maßgebliche Impulse zur Entwicklung einer dreidimensional-dynamischen Free-2-move-Kinematik gesetzt, sondern deren Auswirkungen in verschiedenen Studien auf Gesundheit und Wohlbefinden evaluiert.
3D-dynamisches Sitzen
Eine Laborstudie untersuchte die Körperkonformität: Das Sitzkonzept mobilisiert die natürliche Beweglichkeit der Hüfte, stimuliert die tiefe Rückenmuskulatur und aktiviert mit flüssigen Bewegungen große Muskelschlingen, von den Fußgelenken bis zum Schultergürtel, ohne Unsicherheit und Überforderung.
Eine zweite, vergleichende Feldstudie belegte, dass dieses Mehr an Bewegung zu einem signifikant verbesserten Wohlbefinden und zu einer deutlich verbesserten Konzentrationsleistung führt.
In der jüngsten Vergleichsstudie (2018) schließlich wurden anhand von standardisierten Büroarbeitsprozessen erstmalig die konkreten Stoffwechselaktivitäten spezifischer Rückenmuskeln untersucht. Das 3D-dynamische Sitzen führt nachweislich zu einer besseren Versorgung der Muskulatur im Lumbalbereich, der besonders häufig von Rückenschmerzen betroffen ist.
Entscheidend für den Stoffwechsel ist der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. Die Bewegungen sind ungleich vielfältiger und werden in der Büroarbeit tatsächlich genutzt. Und last but not least schätzen die Probanden den 3D-dynamischen Bürostuhl in allen Kriterien besser ein.
Fazit: Der Produktivitätszuwachs durch bessere Konzentrationsleistung kann in kurzer Zeit die Investitionen in mehr Beweglichkeit einspielen, von den längerfristigen Motivations- und langfristigen Gesundheitseffekten ganz zu schweigen. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, nicht nur das Sitzen, sondern die Büroprozesse und den Büroraum insgesamt zu überdenken. Bewegt Euch, Mitarbeiter, heißt das Gebot der Stunde – nicht nur im übertragenen Sinn!
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Präsentation Studienerkenntnisse ‚Wirksame Büro- und Arbeitswelten‘
Orgatec, Köln, 23. bis 27. Oktober:
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Präsentation Fraunhofer IAO-Studie ‚Wirksame Büro- und Arbeitswelten‘, Podiumsrunde zu den Learnings, Impulsvorträge von Experten
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