Bei der Auswahl des passenden Materials sind in der Praxis oftmals rein ästhetische Vorlieben, technische oder monetäre Argumente das maßgebliche Entscheidungskriterium. Es muss augenscheinlich passen, gefallen oder einfach nur gut aussehen. Reicht das für echte Qualität im Design von Produkten, Bauwerken und der Gestaltung unserer Umwelt? Sicher nicht. Als weitere Argumente fallen dann schnell Begriffe wie Gebrauchswert, die aktuell viel zitierte Nachhaltigkeit oder das berühmte „form follows function“.
Was aber ist mit der Haptik? Haben Sie sich schon einmal bewusst Gedanken über das haptische Gestaltungspotenzial gemacht?

Das haptische Erleben wird in unserer digitalen Welt immer wichtiger. Nicht nur, weil wir uns mehr und mehr nach „Echtem“ sehnen. Sondern auch, weil nur mit dem sprichwörtlichen „Begreifen“ von Material die wahre Qualität überprüft und sein Einsatz sinnvoll geplant werden kann.
Dabei ist der Begriff Haptik in aller Munde. Trotzdem wird er oft falsch verstanden. Zurück geht der Begriff auf Max Dessoir (1892). Der Berliner Psychologe empfahl, die wissenschaftliche Lehre über das Tastsinnesystem in Anlehnung an „Akustik“ und „Optik“ mit „Haptik“ zu benennen.

Heute wird bei der „Lehre vom Tastsinn“ zwischen aktiven und passiven Tastwahrnehmungsprozessen unterschieden. Die aktive haptische Wahrnehmung bezeichnet das tastende „Begreifen“ im Wortsinn, also die Wahrnehmung durch aktive Erkundung – wie beim Streichen der Finger über eine Wandoberfläche. Die taktile Wahrnehmung erfolgt im Gegensatz dazu passiv, wenn wir berührt werden oder Druck auf uns ausgeübt wird.
Die Materialeigenschaften erfassen
Beim aktiven Erkunden von Werkstoffen lassen sich mehrere Oberflächen- und Materialeigenschaften zugleich erfühlen. Ohne hinzusehen spüren wir Größe, Gewicht, Kontur, Festigkeit und Temperatur. Neue Entwicklungen zeigen, dass die haptischen Effekte jedoch noch jede Menge weiteres Potenzial hinsichtlich Gestaltung und Einsatz von Material bieten.

So verleihen Soft-Touch-Oberflächen den Produkten Handschmeichler-Qualitäten. Leichtbauelemente lassen selbst Stein federleicht erscheinen. Mit der Hightechfaser Karbon versetzen Möbeldesigner Anwender in Erstaunen. Auch werden ausgefallene organische Konturen und Verbindungen mittlerweile mit CNC-gesteuerten Bearbeitungszentren wirtschaftlich produzierbar, was jüngst bei den Frühjahrsmessen im Bereich der Sitzmöbel eindrucksvoll zu bestaunen war. Es lohnt sich also, auf aktive „Tuchfühlung“ zu gehen.
Wer hat den streichelzartesten Soft-Touch?
Eine neue Generation von Oberflächen mit dem haptischen Effekt „soft touch“ erweitert die Definition von glatt und rau. Wer kam nicht schon mit diesen samtig anmutenden Handschmeichler-Oberflächen an seinem digitalen Eingabegerät in Berührung. Mausoberfläche, Bedienknöpfe oder Fernbedienung liegen angenehm in der Hand und wirken durch die ultramatte Optik sehr edel. Mittlerweile gibt es diese „soften“ Oberflächen auch auf Halbzeugen, Plattenmaterialien und Beschichtungen.

Und sogenannte Anti-Fingerprint-Beschichtungen halten die Oberflächen selbst bei intensivem Berühren sauber. Sollte die samtige Schicht doch einmal Schaden nehmen, verschwinden die feinen Mikrokratzer beim „Aufbügeln“ mit dem Bügeleisen. Damit erweitert sich der Einsatzbereich von „streichelzarten“ Arbeits-, Tisch- und Schreibtischplatten bis hin zu Regalen, Möbelfronten und Türelementen.
Welche Haptik: Putz oder Tapete?
Geht es um die passende Wandbeschichtung, steht die Frage „Putz oder Tapete?“ an. Neben der Optik ist die Haptik immens wichtig. Denn Architekt und Bauherr wollen wissen: „Wie soll sich die Wand später anfühlen“? Im Gegensatz zur optischen Anmutung, die sich durch Streichen (mit unterschiedlichen Farben) oder Tapezieren (mit neuen Dekoren) einfach und schnell verändern lässt, ist die Anmutung der Oberflächen deutlich langlebiger, da ein Wechsel nicht so einfach vollzogen werden kann.

Aktuell überwiegt noch eindeutig der Wunsch nach glatten Wandoberflächen. Allerdings zeigen zahlreiche Fassaden und Interieurprojekte, dass wieder mehr mit Struktur, Relief und rauen Oberflächen experimentiert wird.
Ein häufiges Argument gegen Rauputz vor allem im Innenraum ist, dass man an der Wand hängen bleiben kann: Gezogene Fäden beim Wollpulli oder dem feinen Seidenkleid werden von Kritikern ins Feld geführt, auch aufgeraute Fingerspitzen oder ein zerkratzter Handrücken.

Dieser vermeintliche Nachteil kann sehr bewusst eingesetzt werden. Im Hotel Pupp in Brixen beispielsweise sind Flure und Zimmerwände in sehr derbem Rauputz ausgeführt. Bei den Gästen sorgt die Oberfläche offensichtlich für den nötigen Respekt. Laut Inhaber führt das raue Material zu deutlich weniger Kratz- und Schleifspuren von Gästen und Koffern – das spart Kosten, weil es die Sanierungsintervalle verlängert.
Fortschritt Synchronpore
Die zuweilen unüberbrückbaren Standpunkte „echtes Material versus Imitation“ müssen neu überdacht werden. Bisher konnten die Verfechter „echter Materialien“ bei den sogenannten Imitaten eine unbefriedigende Optik kritisieren. Es war einfach allzu offensichtlich, dass es sich nicht um einen „echten“ Stein oder eine „echte“ Holzoberfläche handelte.

Inzwischen haben die reproduzierten Dekore, beispielsweise von Holz, eine hohe Qualität erreicht und nicht nur bei den Schichtstoffen (HPL) sind seit geraumer Zeit sehr authentische Dekore auf dem Markt. Das bloße Auge erkennt kaum mehr den Unterschied zwischen „echtem“ Material und Reproduktion.
Mehr noch. Um eine Reproduktion zu entlarven, reichte bislang ein kritisches Berühren oder Darüberstreichen. Der Profi konnte den Unterschied deshalb erfühlen, weil die Oberfläche mehr oder weniger durchgehend glatt war oder die Struktur nicht perfekt mit dem Dekor übereinstimmte. Diese haptische „Rückmeldung“ hat ihre Eindeutigkeit verloren. Denn mittlerweile wird das Druckbild synchron auf die entsprechende Struktur und Maserung abgestimmt.

Mit diesem Verfahren ist es gelungen, auch haptisch sehr nah an das Original heranzukommen. Heute sind die Oberflächen von Furnier, Schichtstoff oder Massivholz optisch und haptisch nicht mehr zu unterscheiden.
Struktur und Anfasszination
Die Sensibilisierung unserer haptischen Wahrnehmung kommt nicht von allein. Sie will trainiert werden durch ständiges Erkunden. Das Training, beispielsweise der Fingerkuppen, kommt allerdings in der digitalen Welt zu kurz, da wir ständig glatte Glasoberflächen berühren. Beim Wischen und Streichen über unsere Touchscreens wird jedoch ein differenzierter „Touch“ nur bedingt verfeinert.

Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb wir in unserem auf Materialberatung spezialisierten Unternehmen Raumprobe eine deutliche Nachfrage nach rauen, stark strukturierten Oberflächen beobachten. Als Gegenpol zu den glatten Surfaces wünschen sich die Architekten, Innenarchitekten und Planer wohl mehr „echte“ Eindrücke und erfahrbare Oberflächenqualitäten.

In jeder Hinsicht ist das Entdecken, Bewerten oder Auswählen von Materialität ein kreativer Prozess. Wir nennen ihn „Anfasszination“.
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Praxistipp Erkundungsprozeduren
Um haptisch ein Material zu erkennen oder dessen Qualität zu beurteilen, gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Wir empfehlen bei einer Materialauswahl das Erproben von Explorationsstrategien.
Dazu zählen das Überstreichen, das Drücken, das Ziehen, das Umfassen, das Nachfahren von Konturen.
Ergänzend: „Materialcollage & Materialkonzepte“, Fortbildungsveranstaltung der Materialakademie der Raumprobe in Kooperation mit Ifbau.
Termin: am 28. Mai 2020, Ort: Stuttgart, Ifbau Haus der Architekten (vormittags) und Raumprobe (nachmittags)
Hannes Bäuerle
geht in der md-Serie ‚Material Akademie‘ der Frage nach: „Was bestimmt Materialqualitäten und woran erkennt man sie?“ Der Autor ist Mitgründer und -gesellschafter der Raumprobe Stuttgart.