Der Ort Daoming in der südchinesischen Provinz Sichuan ist bekannt für seine traditionelle Bambus-Webkunst. Das Handwerk ist hier weit mehr als nur ein ländlicher Wirtschaftszweig. Es ist eine Tradition, die in der sozialen Struktur und dem täglichen Leben der Bewohner fest verwurzelt ist. Bambusweben ist Teil des Alltags: bei Familienzusammenkünften oder Nachbarsbesuchen wird das kulturelle Erbe weitergeführt. So sollte Bambus auch ein zentraler Bestandteil des neuen Kulturzentrums werden, das vom in Shanghai ansässigen Büro Archi-Union Architects entworfen und umgesetzt wurde. Das Büro fokussiert in seinen Projekten auf die Verbindung von traditionellen chinesischen Bauelementen mit digitaler Technik.
Bambus wurde in der Entwurfsrecherche zunächst als Tragstruktur untersucht, schließlich aber wegen limitierender Faktoren im konstruktiven Bereich ausschließlich als ausfachendes Fassadenmaterial und für einen kleinen Verkaufspavillon im Garten eingesetzt. Gemeinsam mit einem lokalen Bambuskunsthandwerker wurden über zwanzig Variationen unterschiedlicher Webmuster getestet. Das nachwachsende Material der Gebäudehülle wird in einen neuen Kontext gesetzt, es scheint vertraut und ist doch neu interpretiert.
Das geschwungene Dach beschreibt eine Endlosschleife. Seine Ebenen überlappen sich im Kreuzungspunkt, was hohe Ansprüche an die darunterliegende Konstruktion stellt. Mit einem Industrieroboter war es möglich, die komplexen Formen in Vorfabrikation auszuführen und die Holzträger als freie Form zu fräsen. Randbedingungen wie Holzeigenschaften und Wuchslängen wurden bei der parametrischen Planung im Computermodell berücksichtigt.
Eine leichte Stahl-Holz-Mischkonstruktion trägt das dreidimensionale Dach. Die industrielle Vorfertigung machte es möglich, das gesamte Gebäude in nur 52 Tagen zu errichten.
Im Gegensatz zur digital generierten Konstruktion steht das Material der Dachdeckung. Die komplexe Form ist mit traditionellen keramischen Dachschindeln belegt, die sich pixelartig in die gekrümmte Fläche fügen. Lokales Handwerk gibt der neuen Form so eine gewohnte und zugleich neuartige Anmutung.
Alles ist im Fluss
In der chinesisichen Tradition sollen ein Kunstwerk, ein Raum oder eine Landschaft in einer fließenden Bewegung entstehen. So haben die Architekten auch den Weg durch das Gebäude konzipiert. Der Besucher bewegt sich zwischen unterschiedlichen Ebenen der Durchlässigkeit von natürlichem und gebautem Raum. Hell und Dunkel wechseln sich ab, wie in einem Wald von Bambus. Die Innenhöfe und geschwungenen Formen spielen mit Licht und Schatten über den Verlauf eines Tages.
Auch die Verbindung zur nahegelegenen Straße wurde als Bewegung inszeniert. Der mehrfach geschwungene Weg, ein in der chinesischen Tradition eher unübliches Element, nimmt die Idee der langsamen Heranführung und der filmischen Sequenz auf. Die umliegenden Bambuswälder verschmelzen in der Wahrnehmung mit dem Gebäude und machen es zu einem Teil der Natur.
Unter dem raumgreifenden Dach verweben sich Außen- und Innenräume und bieten Möglichkeiten für Ausstellungen, Konferenzen, Versammlungen und ein Restaurant. Die Dorfbewohner haben das Gebäude mit Stolz angenommen.
Das größte Kompliment für eine gelungene Architektur, die die lokale Kultur und die alteingesessenen Bewohner respektiert und zugleich zukunftsweisende Akzente setzt.
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Factsheet
Projekt: In Bamboo
Standort: Daoming, Chongzhou, Provinz Sichuan/CHN
Architekturbüro: Archi-Union Architects, Shanghai/CHN; www.archi-union.com
Bauaufgabe: Kulturzentrum
Fertigstellung: April 2017
Nutzfläche: 1800m²
Planungsteam:
Projektleitung: Philip F. Yuan
Architektur: Alex Han, Xiangping Kong, Bing Yang, Tianrui Zhu
Interior: Qinhao Wen, Xiaoming Chen, Jingyan Tang
Material: Holz, Bambus, Keramik
Konstruktion: Jing Wang, Lei Li, Chen Liang, Qiang Zhou
Elektrotechnik: Yong Liu, Ying Yu, Qiang Zhou
Ausführung: Chongzhou City Chongzhong Exhibition Industry Investment Co., Ltd
Autorin Christiane Sauer
Die Architektin und Materialspezialistin lehrt als Professorin für Textil- und Flächendesign an der Weissensee Kunsthochschule Berlin. www.formade.com www.luelingsauer.com