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Ansichten über Zeitsouveränität und Ortsungebundenheit bei der Arbeit.

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Zeitsouveränität

Zeitsouveränität
Arbeiten mit Zeitsouveränität. iStockphoto/Rawpixel
Viele träumen von zeitlich selbstbestimmter Arbeit, also Zeitsouveränität. Wenn dem alle frönen, muss man sich mitunter mühsam über Abläufe abstimmen. Das schafft wiederum Abhängigkeiten. Dennoch ist unserem Kolumnisten die Freiheit wichtiger. Mit all ihren Begrenzungen.

Autor Ahmet Çakir

Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein, sang Reinhard Mey. Wenn ich die Freiheit über den Wolken genießen will, endet sie an der Sitzlehne meines Vordermannes. Der Abstand entscheidet, ob ich ein Laptop benutzen darf oder zum Tablet greifen muss. Wer sagt aber, dass ich in den Flieger steigen muss, um grenzenlos glücklich zu sein? Viele Personen haben mit ihren (elektronischen) Wolken dafür gesorgt, dass Information grenzenlos frei sein darf. Also muss ich nirgendwohin, um Informationen zu holen oder loszuwerden.

Menschen, die von Zeitsouveränität und ortsungebundenem Arbeiten reden, stehen für keine neue Idee. Ähnliche Gedanken sind von Epikur von Samos überliefert, der als Begründer der hedonistischen Lehre gilt, die besagt: „Man muss sich aus dem Gefängnis der Geschäfte und der Politik befreien.“

Von der gleichen Insel stammt auch der Satz des Pythagoras. Dieser gefiel späteren Herrschern weltlicher und religiöser Provenienz viel besser, weil Epikur noch andere Weisheiten verbreitete wie „Genuss ist der Beginn und das Ende eines gesegneten Lebens“. Nicht auszumalen, wenn Arbeiterinnen so etwas gelesen hätten, die gemäß der deutschen Arbeitszeitordnung von 1938 (AZO) nachts nicht arbeiten durften. Dazu wurde die deutsche Nacht extra nach 22:00 Uhr verlegt. So spät kommt sie nicht einmal in der Sommerzeit.

Kein Wunder, dass diejenigen, die von Entgrenzung reden, um die Arbeitszeiten kreisen, die seit 1994 nicht mehr durch die AZO geregelt sind. Warum muss ich jeden Tag zur gleichen Zeit bei der Arbeit erscheinen? Muss ich schon seit Jahrzehnten nicht, und man kann sich seine geleistete Arbeit auf diverse Konten bis hin zum Lebensarbeitszeitkonto überweisen.

Dennoch wünschen sich viele, dass mehr Grenzen des Arbeitszeitgesetzes fallen und sie mehr Zeitsouveränität haben. Wie schade, dass die Arbeitgeber die Idee schon vor mehr als 30 Jahren entwickelten. Eine große Koalition der Ökonomisten und Hedonisten gegen jegliche Regelung der Arbeitszeiten?

Man kann relativ einfach nachweisen, dass die Koalition viel größer ist, wenn es um die Entgrenzung allgemein geht. Jedes Lebewesen ist auf die Optimierung seiner Kommunikation mit dem Rest des Universums angewiesen, wobei häufig die unmittelbare Umgebung reicht. Schafft ein Individuum keine effiziente Kommunikation mit seiner Umwelt, ist es gefährdet. Wenn es eine Spezies trifft, ist sie zum Aussterben verurteilt, egal wie groß sie ist.

Dem kann man zwar unter Umständen entgehen – wie die Dinosaurier. Wer möchte aber so leben wie manche ihrer Nachfahren, die in Legebatterien Frühstückseier produzieren müssen? Das Zauberwort heißt Kontrolle – Kontrolle über die relevanten Lebensbedingungen zum eigenen Wohl.

Dem stehen alle Regeln und Gesetze entgegen. Der Arbeits- und Industriesoziologe G. Günter Voß betitelte deshalb seine Schrift von 1998 mit „Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. Eine subjektorientierte Interpretation des Wandels der Arbeit“.

Also Epikurs Zitat folgend: „Schlimm ist der Zwang, doch es gibt keinen Zwang, unter Zwang zu leben.“ Gewiss, vor 2 500 Jahren auf Samos konnte man es sich gut gehen lassen. Die Hippies meiner Generation taten es vor nicht langer Zeit am selben Ort ebenfalls. Für sie wie für Epikur war eine Grenze eine Aufforderung zur Entgrenzung.

Für die Ökonomisten, die garantiert keine Schüler von Epikur sind, hieß das Ergebnis einer solchen Denke Globalisierung. Für New Worker bedeutet es, dass neue Arbeit selbstbestimmt ist. Sie reden von „Work-Life-Blending“, einem fließenden Ineinander-Übergehen von Berufs- und Privatleben. Sie, wie auch andere Beschäftigte, wollen oder sollen größere Entscheidungs- und Gestaltungskompetenzen erhalten.

Wie realistisch sind solche Vorstellungen? Von mir darf man darauf keine negative Antwort erwarten, weil ich vorbelastet bin. Zehn Jahre lang habe ich eine internationale Zeitschrift mit Autoren, Lesern und Redakteuren auf allen Kontinenten von einem iPad aus gesteuert. Das Dumme: Alle genannten Gruppen waren gleichfalls auf Entgrenzung aus. So kannte mein Arbeitsleben weder Sonntag noch Weihnachten.

Total entgrenzt las ich ernste Artikel nüchtern in der Ägäis, statt Samos samt Wein hochleben zu lassen. Meine große Zeitsouveränität bestand darin, Kompetenzen für eine nachhaltige Zeitverwendung zu entwickeln. Warum ich ein iPad für die Arbeit benutzte, steht am Anfang: mein Vordermann in der Holzklasse. Ich musste meine individuelle Zeitrechnung mit fremden Zeitpolitiken abgleichen, weil keiner Rücksicht auf meine nehmen muss. Ich bin ja frei. Die anderen leider auch.

Und? Grund zur Beschwerde? Ich denke nein, ich bin ja nicht per Anhalter durch die Arbeitswelt gesurft und abgestürzt. Nach meinen Studien war das Ausüben der Kontrolle über die eigene Arbeit zwar stressig, bildete aber den wichtigsten Grund zur Zufriedenheit. Die Frage für die Zukunft heißt eher, ob wir eine neue Arbeitskultur aus einem Guss schaffen müssen oder eine aus Versatzstücken alter Kulturen basteln.

Vielleicht fangen wir mit einer gemeinsamen Sprache an, die erfolgreiche Entgrenzer aus dem Mittelalter entwickelten, die lingua franca der Kaufleute in Europa und das Latein der Wissenschaftler. Das Letztere musste allerdings nicht entwickelt werden, weil die Römer Europa und Afrika entgrenzt hatten.


Kolumnist Ahmet E. Çakir ist Inhaber und wissenschaftlicher Leiter des Ergonomic Instituts für Arbeits- und Sozialforschung in Berlin und Gutachter.


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