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Midgard – Mythologie des Lichts

Designgeschichte neu aufgelegt
Midgard – Mythologie des Lichts

Sammler begeistern sich seit Langem für ‚Midgard‘-Leuchten. In den Zwanzigerjahren stellten sie eine Revolution dar. Entstanden in einem Familienbetrieb, wurden sie beständig weiterentwickelt. Nun werden in Hamburg bedeutende Modelle neu aufgelegt.

Autor Thomas Edelmann

Bauhaus-Design? Von wegen! Bei Kennern und Sammlern erfreut sich die Gelenkleuchte ‚Midgard’, die es in zahllosen Varianten und besonderen Versionen gibt, bis heute großer Beliebtheit. Die Hamburger Unternehmer und Sammler David Einsiedler und Joke Rasch übernahmen 2015 Marke, Firmenarchiv und Originalwerkzeuge aus dem Familienbesitz des Gründers.

Mit ihrem Unternehmen Ply sind sie als Händler, Innenarchitekten und Eventveranstalter in Hamburg und neuerdings auch in Zürich tätig. Nach und nach legen sie die Entwürfe aus den Zwanziger-, frühen Dreißiger- und Siebzigerjahren wieder auf. Beginnend mit der ‚Maschinenleuchte‘, die ca. 1930 entstand. Ihr Erfinder, der Ingenieur Curt Fischer (1890–1956), hat am Bauhaus weder gelehrt noch studiert. Allerdings erfreuten sich dort, vor allem im 1926 bezogenen Neubau in Dessau, seine Konstruktionen großer Beliebtheit, zu Walter Gropius und anderen bekannten Architekten und Gestaltern der Moderne unterhielt er enge Kontakte. Der Kunsthistoriker Robin Rehm hat die Midgard-Leuchte in seiner 2005 erschienenen Monografie über das Dessauer Bauhaus-Gebäude als „Musterbeispiel zweckorientierter Lampen“ gewürdigt.

Studenten und Bauhausmeistern standen einst die gleichen Midgard-Leuchten zur Verfügung. Von ihnen schwärmte Marianne Brandt: „Beneidet haben wir später die Erfinder des Armes der Midgard-Leuchte – unsere Lampe war ja auch verstellbar, aber eben nicht so elegant.“ Dabei war Brandt selbst Leuchten-Expertin. Sie war eine der wenigen weiblichen Studenten, die am Bauhaus nachdrücklich gewürdigt wurden. Walter Gropius und Laszlo Moholy-Nagy förderten ihre Arbeit in der Metallwerkstatt. Mit deren Leuchten wurde das Dessauer Bauhaus überwiegend ausgestattet, abgesehen von eben jenen Midgard- Leuchten.

Zusammen mit Hin Bredendieck übernahm Marianne Brandt unter Bauhausdirektor Hannes Meyer die Entwicklungsarbeit für jene neuen Leuchten, die das Bauhaus prototypisch gemeinsam mit der Leipziger Firma Körting & Mathiesen für deren Marke Kandem schuf. Diese Firma verfügte bereits über eine breite Angebotspalette – von der Straßenbeleuchtung bis zur Nachttischlampe.

Industriezeitalter

Deutlich kleiner, aber bereits international wirksam war das Familienunternehmen aus dem thüringischen Auma. Als „Industrie-Werk Auma“ 1912 gegründet, stellte es Maschinen für die in Thüringen verbreiteten Porzellanmanufakturen her. Während in Weimar im Jahr 1919 die heute weltberühmte Kunsthochschule gegründet wurde und sich laut Bauhaus-Manifest zunächst nach dem Vorbild mittelalterlicher Bauhütten zu organisieren suchte, erhielt Curt Fischer im Herbst desselben Jahres sein erstes Patent für einen „verstellbaren Wandarm mit auf einer Gleitstange verschieb- und drehbarem Scherengestell“ für elektrische Lampen.

Nur 50 km von Weimar entfernt arbeitete er kontinuierlich an der Verbesserung seiner elektrischen Leuchten mit lenkbarem Licht. Er realisierte sie zunächst vor allem für Fabrikations- und Werkstätten. Die dort übliche, von der Decke pendelnde Allgemeinbeleuchtung stellte nicht selten den Arbeiter in den Schatten, auch sein Werkstück blieb im Dunkeln. Um Abhilfe zu schaffen, konstruierte er mit einer Hand einstellbare Lenklampen, die Licht genau dort verfügbar machen, wo es gebraucht wird.

Schon zu Beginn, im Jahr 1919, ließ er sich die Marke Midgard eintragen. Während am frühen Bauhaus Johannes Itten und seine Anhänger dem dubios-esoterischen Mazdaznan-Kult huldigten, entlehnte Fischer seinen Markennamen der germanischen Mythenwelt der Lieder-Edda.

Dort bezeichnet Midgard die Menschenwelt. Im Markenzeichen taucht die Midgard-Schlange auf, in der Sage verkörperte sie ein kaum zu besiegendes böses Urviech; bei Fischer mutierte sie zum freundlich-züngelnden Gegenspieler des Sonnenlichts. Sammlern dient die miniaturisierte Prägemarke an dem Leuchtengestell noch heute als ein Indiz für deren Herkunft. Zunächst von Fischer für Fabrik, Werkstätte oder den Arbeitsplatz von Zahnärzten konzipiert, drangen Midgard-Leuchten später über Künstler-Ateliers gemeinsam mit den zunächst als klinisch-kalt empfundenen Stahlrohrmöbeln in private Häuser und Wohnungen vor und wurden zu geliebten Kultobjekten. Gropius nutzte sie auch nach seinem Ausscheiden aus dem Bauhaus, etwa 1931 bei der Deutschen Bauausstellung in Berlin. Zunächst waren es vor allem Architekten und Formgestalter, die sich für ihre Funktion und Gestaltung begeisterten.

Es sind Bilder von Mitarbeitern der Bauabteilung des Bauhauses überliefert, die am Projekt der Bundesschule des ADGB in Bernau von Hannes Meyer und Hans Wittwer beteiligt, auf dem Zeichentisch im Licht der Midgard-Leuchte ‚113‘ ein Nickerchen halten. Neben verspiegelten Zeiss-Ikon-Strahlern – auch sie waren bei Gropius wie Meyer wegen ihrer indirekten Lichtwirkung beliebt, waren die Leseplätze der Bibliothek mit dem Modell 113 ausgestattet, wie ein Bild von Walter Peterhans aus der Zeit nach der Fertigstellung dokumentiert. Im „Ausweichbüro“, das Egon Eiermann in Beelitz-Heilstätten bei Berlin unterhielt, kam überwiegend Modell ‚114‘ zum Einsatz, für das Fischer wartungsfreie Gelenke entwickelt hatte.

Neue Ära

Wie auf einem zeitgenössischen Foto zu sehen ist, dienten sie im Zeichenraum an den dort erstmals verwendeten Eiermann-Tischgestellen dazu, aufwärts gerichtet den Raum indirekt zu erhellen – oder mit einem Handgriff verstellt, jeden Arbeitsplatz separat auszuleuchten. Der Ingenieur, Unternehmer und Leuchtendesigner Curt Fischer starb 1956, sein Sohn Wolfgang (Jahrgang 1924) übernahm daraufhin die Firma. Trotz Enteignung 1972 in der DDR und Umwandlung zum VEB Industrieleuchtenbau Auma gelang es ihm, das Erbe zu bewahren. Wolfgang Fischer sorgte dafür, dass die Patente und Gebrauchsmuster verlängert wurden. Eine Ikea-Version der Federzugleuchte wurde in Auma produziert. Nach der Wende wurde das Unternehmen reprivatisiert. Die Federzugleuchte wurde anschließend für Manufactum hergestellt. Wolfgang Fischers Stieftochter Anja Specht und ihre Schwester entwickelten das Unternehmen und seine Modellpalette weiter.

Nun beginnt in Hamburg ein neues Kapitel der Midgard-Leuchten. Die neuen Eigner setzen die Leuchten in eigenen Innenarchitektur-Projekten ein, etwa für die Unternehmensberater von Deloitte in Köln, wo die wieder aufgelegten Maschinenleuchten mit der zeitgenössischen Büroeinrichtung harmonieren. Nach der beinahe zeitgleich entstandenen ‚Lampe Gras’ (1921) von Bernard-Albin Gras und der ‚Anglepoise’ von George Carwadine (1932) sowie den beständig hergestellten Lichtlenk-Leuchten von Poul Henningsen (ab 1926) sind nun die wichtigsten analogen Lichtwerkzeuge der Moderne wieder auf dem Markt, die heute für Industrial Chic, für gelebte Tradition und die Begeisterung für ablesbare technische Formen stehen. Als historisches Objekt wie als neu aufgelegtes Exempel genießen sie heute unsere Aufmerksamkeit.

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